Edith Wharton
gestrigen Tag wußte sie genau, was sie fühlen
würde, wenn Harney sie in seine Arme nähme: wie sich eine Hand mit der anderen
verbände, ein Mund mit dem anderen verschmölze, und die hohe Flamme, die sie
von Kopf bis Fuß verzehren würde. Aber dieses Gefühl war vermischt mit einem
anderen: dem staunenden Stolz darauf, daß er sie gern mochte, der verwunderten
Zärtlichkeit, die seine Zuneigung in ihr Herz gepflanzt hatte. Manchmal, wenn
ihre Jugend in Wallung geriet, hatte sie sich vorgestellt, daß sie sich wie
andere Mädchen verstohlenen Liebkosungen im Dämmerlicht hingäbe; aber sie
konnte sich vor Harney nicht so erniedrigen. Sie wußte nicht, warum er
wegging; aber da er wegging, hatte sie das Gefühl, sie dürfe nichts tun, was
das Bild entstellen könnte, das er von ihr mitnahm. Wenn er sie haben wollte,
mußte er zu ihr kommen: er durfte nicht dazu überrumpelt werden, sie so zu nehmen,
wie man Mädchen wie Julia Hawes nahm ...
Kein Laut kam aus dem schlafenden
Dorf, und in der tiefen Dunkelheit des Gartens hörte sie hin und wieder ein
leises Rascheln von Zweigen, als habe sie ein Nachtvogel gestreift. Einmal
hörte man Schritte am Tor, und sie zog sich in ihre Ecke zurück; aber die
Schritte verhallten und ließen eine noch tiefere Stille zurück. Ihr Blick
ruhte noch immer auf Harneys gequältem Gesicht: sie hatte das Gefühl, sie
könne sich erst wieder bewegen, wenn er sich bewege. Aber allmählich wurde sie
ganz steif, weil sie so verkrampft dasaß, und mitunter waren ihre Gedanken so
vage, daß es schien, als werde sie nur von einer unbestimmten Last an Müdigkeit
an ihrem Platz festgehalten.
Eine lange Zeit verging in dieser
seltsamen Nachtwache. Harney lag immer noch auf dem Bett, reglos, die Augen
auf einen festen Punkt geheftet, als verfolge er seine Vision bis zum bitteren
Ende. Schließlich bewegte er sich und veränderte ein wenig seine Haltung, und
Charitys Herz klopfte rascher. Aber er streckte nur die Arme aus und lag dann
wieder da wie zuvor. Mit einem tiefen Seufzer strich er sich das Haar aus der
Stirn; dann entspannte sich sein ganzer Körper, sein Kopf sank seitlich auf das
Kissen, und Charity sah, daß er eingeschlafen war. Das zarte Lächeln kehrte auf
seine Lippen zurück, die Verstörtheit verschwand aus seinem Gesicht, und es sah wieder so rein
wie das eines Knaben aus.
Sie stand
auf und stahl sich davon.
8
Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wußte
nicht, wie spät es war, bis sie wieder auf die Straße trat und sah, daß alle
Fenster zwischen Miss Hatchards Haus und dem der Royalls dunkel waren.
Als sie unter dem schwarzen Mantel
der Rottannen hervorkam, bildete sie sich ein, sie sähe zwei Gestalten im
Schatten um den Ententeich. Sie wich zurück und beobachtete die Stelle; aber
nichts rührte sich, und sie hatte so lange in das erleuchtete Zimmer gestarrt,
daß die Dunkelheit sie verwirrte, und sie dachte, sie müsse sich getäuscht
haben.
Sie ging weiter und fragte sich, ob
Mr. Royall wohl noch immer auf der Veranda sitze. In ihrem überspannten
Zustand war es ihr ziemlich einerlei, ob er auf sie wartete oder nicht: ihr
schien, als schwebe sie hoch über dem Leben auf einer großen Wolke des
Unglücks, unter der die realen, alltäglichen Dinge zu bloßen Pünktchen im All
geschrumpft waren. Aber die Veranda war leer, Mr. Royalls Hut hing an seinem
Haken im Flur, und man hatte die Küchenlampe brennen lassen, damit Charity den
Weg in ihr Zimmer fände. Sie nahm sie und ging hinauf.
Die Morgenstunden des folgenden
Tages zogen sich hin, ohne daß etwas geschah. Charity hatte geglaubt, daß sie
auf irgendeine Weise erfahren werde, ob Harney bereits abgereist war; aber die
Taubheit hinderte Verena, eine Nachrichtenquelle zu sein, und niemand kam ins
Haus, der Aufschluß hätte geben können.
Mr. Royall ging zeitig weg und
kehrte erst zurück, als Verena den Tisch für das Mittagessen gedeckt hatte. Er
kam herein, ging direkt in die Küche und rief der alten Frau zu: »Ich warte
aufs Essen ...«, dann wandte er sich ins Eßzimmer, wo Charity bereits Platz
genommen hatte. Harneys Teller stand an seinem gewohnten Platz, doch Mr. Royall
lieferte keine Erklärung für die Abwesenheit des jungen Mannes, und Charity
stellte keine Fragen. Die fiebrige Überspanntheit der Nacht hatte sich gelegt,
und sie sagte sich gleichgültig, beinahe zynisch, er sei fort, und nun werde
ihr Leben wieder in die engen Bahnen zurücksinken, aus denen er es erhoben
hatte. Einen
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