Edith Wharton
schön aussah«, auf einem Empfang
im Freien ... Vielleicht hatte Mr. Miles sie genau in jenem Augenblick gesehen, als Charity und Harney in dem
elenden Loch bei den Hyatts zwischen einem Trunkenbold und einer
schwachsinnigen alten Frau gesessen hatten! Charity wußte nicht genau, was ein
Empfang im Freien war, aber der flüchtige Blick, den sie auf die blumengesäumten
Rasenflächen von Nettleton hatte werfen können, half ihr, sich die Szene
vorzustellen, und neidvolle Erinnerungen an das »alte Zeug«, das Miss Balch
eingestandenermaßen »abtrug«, wenn sie nach North Dormer kam, machte es nur zu
leicht, sie sich in ihrer ganzen Pracht vorzustellen. Charity begriff, was für
Gedankenverbindungen dieser Name geweckt haben mußte, und fühlte die
Sinnlosigkeit, gegen die unsichtbaren Einflüsse in Harneys Leben anzukämpfen.
Als sie aus ihrem Zimmer zum
Abendessen herunterkam, war er nicht da; und während sie auf der Veranda
wartete, fiel ihr wieder ein, in welchem Ton Mr. Royall am Tag zuvor ihren
frühen Aufbruch kommentiert hatte. Mr. Royall saß neben ihr, den Stuhl nach
hinten gekippt, und stützte seine schweren schwarzen Zugstiefel auf die untere
Stange des Geländers. Sein zerzaustes graues Haar sträubte sich über der Stirn
wie der Kamm eines zornigen Vogels, und das Lederbraun seiner geäderten Wangen
war rotgefleckt. Charity wußte, daß diese Flecken die Anzeichen eines kommenden
Wutausbruchs waren. Plötzlich sagte er: »Wo bleibt das Abendessen? Hat sich
Verena Marsh wieder einmal bei ihrem Sodateig vertan?«
Charity warf ihm einen überraschten
Blick zu. »Sie wird vermutlich auf Mr. Harney warten.«
»So, so! Auf Mr. Harney? Dann sollte
sie lieber auftragen. Er kommt nicht.« Er stand auf, ging zur Tür und rief in
der Lautstärke, die notwendig war, um das Trommelfell der alten Frau zu
erreichen: »Bring das Abendessen, Verena.«
Eine schlimme Ahnung ließ Charity
erzittern. Es war etwas geschehen – dessen war sie sich nun sicher—, und Mr.
Royall wußte, was es war. Aber um nichts in der Welt hätte sie ihm die
Genugtuung verschafft, ihm ihre Angst zu zeigen. Sie nahm ihren gewohnten Platz
ein, und er setzte sich ihr gegenüber und goß sich eine Tasse starken Tee ein,
bevor er ihr die Kanne weiterreichte. Verena brachte Rührei, und er häufte
sich den Teller voll. »Ißt du nichts?« fragte er. Charity nahm sich zusammen
und begann zu essen.
Der Ton, in dem Mr. Royall gesagt
hatte: »Er kommt nicht«, schien ihr von einer Unheil verheißenden Genugtuung
erfüllt. Sie merkte, daß er Lucius Harney plötzlich haßte, und sie vermutete,
daß sie die Ursache dieses Gefühlsumschwungs war. Aber sie hatte keine
Möglichkeit herauszufinden, ob irgendein feindseliger Akt von Mr. Royalls Seite
den jungen Mann bewogen hatte wegzubleiben, oder ob er einfach vermeiden
wollte, sie nach der Fahrt zum braunen Haus wiederzusehen. Sie aß ihr
Abendessen mit gespielter Gleichgültigkeit, doch sie wußte, daß Mr. Royall sie
beobachtete und ihm ihre Unruhe nicht entging.
Nach dem Essen ging sie hinauf in
ihr Zimmer. Sie hörte, wie Mr. Royall durch den Flur ging, und dann merkte sie
an den Geräuschen unter ihrem Fenster, daß er auf die Veranda zurückgekehrt
war. Sie setzte sich aufs Bett und kämpfte gegen den Wunsch an, hinunterzugehen
und ihn zu fragen, was geschehen sei. »Lieber würde ich sterben«, murmelte sie
vor sich hin. Mit einem Wort hätte er sie aus ihrer Ungewißheit erlösen
können: aber niemals würde sie ihm die Genugtuung verschaffen, es ihr sagen zu
dürfen.
Sie stand auf und beugte sich aus
dem Fenster. Die Dämmerung hatte sich in Nacht verdunkelt, und sie betrachtete
die zarte Sichel des jungen Mondes, die sich auf den Rand der Hügel
herabsenkte. In der Dunkelheit sah sie ein, zwei Gestalten die Straße
entlanggehen, aber der Abend war zu kalt zum Umherschlendern, und wenig später
waren die Spaziergänger verschwunden. Hier und da gingen allmählich Lampen
hinter den Fenstern an. Ein Lichtstrahl ließ einen Busch Lilien im Hof der
Hawes weiß aufleuchten, und die Straße weiter hinunter warf Carrick Frys
Rochesterlampe ihr grelles Licht auf den schlichten Blumenkübel in der Mitte
seines Rasens.
Lange lehnte Charity im Fenster.
Aber eine fieberhafte Unruhe verzehrte sie, und schließlich ging sie nach
unten, nahm ihren Hut vom Haken und verließ mit raschen Schritten das Haus. Mr.
Royall saß auf der Veranda, Verena neben ihm, die alten Hände gefaltet auf
ihrem geflickten
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