Edith Wharton
Summen erfüllt, als bauten große Vögel ihre
Nester in diesen unsichtbaren Wipfeln.
Hin und wieder entstand eine kurze
Pause, und eine Woge aus Mondlicht überflutete den See. Für den Bruchteil einer
Sekunde erhellte es Hunderte von Booten, die sich dunkel wie Stahl von dem
schimmernden Wellengekräusel abhoben; dann verschwand
es wieder, wie wenn sich große durchscheinende Flügel zusammenfalteten.
Charitys Herz klopfte vor Entzücken. Es war, als habe sich ihr die ganze
verborgene Schönheit der Dinge offenbart. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß
es auf der Welt noch irgend etwas Schöneres geben könne, doch hörte sie in
ihrer Nähe jemanden sagen: »Warte nur, bis das Abschlußbild kommt«, und sofort
wurden ihre Hoffnungen aufs neue beflügelt. Schließlich, als ihr schien, der
ganze Himmelsbogen sei ein einziges großes Lid, das auf ihren geblendeten
Augäpfeln liege und aus ihnen beständig Strahlen funkelnden Lichts aussende,
senkte sich wieder samtene Dunkelheit herab, und ein erwartungsvolles Gemurmel
lief durch die Menge.
»Jetzt – jetzt!« sagte dieselbe
Stimme aufgeregt; und Charity griff nach dem Hut auf ihren Knien und drückte
ihn an sich in dem Bemühen, ihre Begeisterung zu zügeln.
Einen Augenblick lang schien die
Nacht noch undurchdringlicher zu werden; dann hob sich ein großes Bild wie ein
Sternbild davon ab. Es war gekrönt von einem goldenen Schnörkel mit der
Inschrift: »Washington überschreitet den Delaware«, und über eine Flut von
unbewegten goldenen Wellen zog der Nationalheld vorbei; aufrecht, feierlich und
riesengroß stand er mit verschränkten Armen im Heck eines langsam dahintreibenden
goldenen Bootes.
Ein langgezogenes »Oh« brach aus dem
Publikum hervor: die Tribüne ächzte und erbebte unter seinem hingerissenen
Erzittern. »Oh«, stieß Charity hervor: sie hatte vergessen, wo sie war, hatte
zum Schluß sogar vergessen, daß Harney bei ihr war. Sie schien zu den Sternen
entrückt ...
Das Bild erlosch, und Dunkelheit
senkte sich herab. Im Finstern spürte Charity, wie ihr Kopf von zwei Händen
ergriffen wurde: ihr Gesicht wurde nach hinten gezogen, und Harneys Lippen
preßten sich auf ihre. Mit plötzlichem Ungestüm schlang er die Arme um sie und
drückte ihren Kopf an seine Brust, während sie seine Küsse erwiderte. Ein
unbekannter Harney hatte sich offenbart, ein Harney, der sie beherrschte und
über den sie dennoch, wie sie spürte, eine neue, geheimnisvolle Macht besaß.
Doch die Menge setzte sich
allmählich in Bewegung, und er mußte sie freigeben. »Komm«, sagte er mit verlegener
Stimme. Er kletterte an der Seite der Tribüne hinunter und fing sie mit
erhobenen Armen auf, als sie zu Boden sprang. Er legte ihr den Arm um die
Taille, um ihr gegen die abwärts drängenden Massen Halt zu geben; und sie
klammerte sich an ihn, sprachlos und selig, als sei das ganze Gewühl und
Durcheinander um sie herum nichts als ein schwacher Windhauch.
»Komm«, wiederholte er, »wir müssen
versuchen, die Straßenbahn zu erreichen.« Er zog sie mit sich fort, und sie
folgte, immer noch wie im Traum. Sie gingen nebeneinander, als seien sie eins,
so entrückt in ihrer Verzückung, daß die Leute, die sie von allen Seiten anrempelten,
körperlos erschienen. Aber als sie zur Endstation kamen, ratterte die hell
erleuchtete Straßenbahn bereits davon, die Perrons schwarz von Fahrgästen. Die
dahinter wartenden Wagen waren genauso überfüllt, und das Gedränge an der
Endstation war so dicht, daß es aussichtslos erschien, sich um einen Platz zu
bemühen.
»Letzte Fahrt den See entlang«,
brüllte es aus einem Megaphon vom Bootssteg her; und die Lichter des kleinen
Dampfers kamen tanzend aus der Dunkelheit.
»Es hat keinen Sinn, hier zu warten.
Sollen wir den See entlanggehen?« schlug Harney vor.
Sie bahnten sich den Weg zurück zum
Ufer, als gerade die Laufplanke an der Seite des weißen Schiffes
heruntergelassen wurde. Das elektrische Licht am Ende des Bootsstegs schien
voll auf die aussteigenden Passagiere, und Charity erkannte unter ihnen Julia
Hawes mit schief sitzender weißer Feder, das Gesicht gerötet von derbem
Gelächter. Am Ende der Laufplanke blieb sie unvermittelt stehen, und ihre
dunkel umrandeten Augen sprühten boshaft.
»He, Charity Royall!« rief sie; und
dann, während sie über die Schulter nach hinten blickte: »Hab' ich euch nicht
gesagt, es wär' ein Familientreffen? Hier kommt Opas kleiner Liebling, um ihn
nach Hause zu bringen!«
Ein Gekicher
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