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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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allen
Details ihrer Demütigung weiden würden.
    Ihr vorübergehendes Mitleid mit Mr.
Royall war von Haß verdrängt worden: alles in ihr schauderte vor dem unwürdigen
Anblick des betrunkenen alten Mannes zurück, der sie in Gegenwart einer Bande
von Tagedieben und Straßenmädchen angepöbelt hatte. Plötzlich durchlebte sie
noch einmal deutlich den entsetzlichen Augenblick, als er versucht hatte, in
ihr Zimmer einzudringen, und was sie bislang für einen verrückten Fehltritt
gehalten hatte, erschien ihr nun als eine ganz gewöhnliche Episode in einem
lasterhaften, verderbten Leben.
    Während ihr diese Gedanken durch den
Kopf schossen, hatte sie ihre alte Schultasche aus Segeltuch hervorgeholt und
stopfte hastig ein paar Kleidungsstücke und das kleine Bündel Briefe hinein,
die sie von Harney erhalten hatte. Unter dem Nadelkissen holte sie den Bibliotheksschlüssel
hervor und legte ihn so hin, daß er sofort ins Auge fiel; dann kramte sie ganz
hinten in einer Schublade nach der blauen Brosche, die Harney ihr geschenkt
hatte. Sie hätte nie gewagt, sie in North Dormer vor aller Augen zu tragen,
doch nun steckte sie sie an ihren Busen, als wäre sie ein Talisman, der sie auf
ihrer Flucht beschützen solle. Diese Vorbereitungen hatten nur ein paar
Minuten gedauert, und als sie damit fertig war, stand Ally Hawes immer noch an
der Ecke bei Frys und unterhielt sich mit der alten Mrs. Sollas ...
    Charity hatte sich, wie stets in
Augenblicken großer Empörung, gesagt: »Ich geh' auf den Bergich geh' zurück zu
meinen Leuten.« Nie zuvor hatte sie es wirklich ernst gemeint; doch als sie nun
ihre Lage durchdachte, schien kein anderer Weg offen. Sie hatte nie einen
Beruf erlernt, der ihr an einem fremden Ort Unabhängigkeit verliehen hätte,
und sie kannte niemanden in den großen Städten im Tal, bei dem sie auf eine
Anstellung hätte hoffen können. Miss Hatchard war noch immer verreist; aber
selbst wenn sie in North Dormer gewesen wäre, so wäre sie der letzte Mensch
gewesen, an den sich Charity gewandt hätte, denn einer der Gründe, die sie zur
Flucht bewogen, war der Wunsch, Lucius Harney nicht zu begegnen. In dem
überfüllten, hell erleuchteten Zug auf der Rückfahrt von Nettleton, war
jeglicher Austausch von Vertraulichkeiten unmöglich gewesen; aber während
ihrer Fahrt von Hepburn nach Creston River hatte sie Harneys bruchstückhaften
Trostworten – wiederum gehemmt durch die Anwesenheit des sommersprossigen
Jungen – entnommen, daß er sie am nächsten Tag treffen wollte. Zunächst hatte
dieses Versprechen sie auf unbestimmte Weise getröstet; aber in der trostlosen
Klarheit der folgenden Stunden hatte Charity erkannt, daß es unmöglich sei,
ihm je wieder zu begegnen. Ihr Traum von Kameradschaft war vorbei; und die
Szene am Bootssteg, so abstoßend und entwürdigend sie gewesen war, hatte
immerhin das Licht der Wahrheit auf den kurzen Augenblick ihrer Tollheit
geworfen. Es war, als hätten die Worte ihres Vormunds sie vor den Augen der
grinsenden Menge nackt ausgezogen und aller Welt die geheimen Regungen ihres
Gewissens enthüllt. All dies dachte sie nicht klar zu Ende; sie folgte nur dem
blinden Antrieb ihres Elends. Sie wollte niemals irgend
jemanden mehr sehen, den sie gekannt hatte; und vor allem wollte sie Harney
nicht wiedersehen ...
    Sie stieg den Bergweg hinter dem
Haus hinauf und nahm eine Abkürzung durch den Wald, die zur Straße nach Creston
führte. Ein bleifarbener Himmel hing schwer über den Feldern, und im Wald war
die unbewegte Luft stickig; aber sie schritt rasch aus, ungeduldig die Straße
zu erreichen, die der nächste Weg zum Berg war.
    Dazu mußte sie ein, zwei Meilen der
Straße nach Creston folgen und sich bis auf eine halbe Meile dem Dorf nähern;
sie ging rasch, aus Angst, Harney zu begegnen. Aber er war nirgends zu sehen,
und sie war schon fast an der Abzweigung angekommen, als sie die Seiten eines
großen weißen Zelts zwischen den Bäumen an der Straße hindurchschimmern sah.
Sie vermutete, es gehöre zu einem Wanderzirkus, der zum 4. Juli hergekommen
sei; aber als sie näher kam, sah sie über der zurückgeschlagenen Klappe ein
großes Schild mit der Aufschrift »Missions-Zelt«. Das Innere schien leer, doch
ein junger Mann in einem schwarzen Alpakarock mit strähnigem, über dem runden,
weißen Gesicht gescheitelten Haar trat unter der Eingangsklappe hervor und kam
lächelnd auf sie zu. »Schwester, dein Erlöser weiß alles. Willst du nicht
hereinkommen und deine

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