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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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dunkel, aber Charity
entdeckte eine Schachtel Streichhölzer, zündete eine Kerze an
und ging nach oben. Mr. Royalls Tür, die der ihren gegenüberlag, stand offen
und gab den Blick frei auf sein unbeleuchtetes Zimmer; offensichtlich war er
noch nicht zurück. Sie ging in ihr Zimmer, verriegelte die Tür und begann
langsam, das Band um ihre Taille aufzuknoten und das Kleid auszuziehen. Unter
dem Bett sah sie die Papiertüte, in der sie ihren neuen Hut vor neugierigen
Blicken versteckt hatte.
    Lange Zeit lag sie schlaflos auf dem Bett
und starrte hinauf zum Mondlicht an der niedrigen Decke; es dämmerte am
Himmel, als sie einschlief, und als sie erwachte, schien ihr die Sonne ins
Gesicht.
    Sie zog sich an und ging in die
Küche hinunter. Verena war da, allein: aus ihren alten stumpfen Augen blickte
sie Charity ruhig an. Nichts wies darauf hin, daß Mr. Royall zu Hause war, und
die Stunden vergingen, ohne daß er auftauchte. Charity war wieder in ihr
Zimmer gegangen und saß teilnahmslos da, die Hände auf dem Schoß. In Stößen
bewegte schwüle Luft die Baumwollvorhänge, und Fliegen summten matt gegen die
bläulichen Fensterscheiben.
    Um eins humpelte Verena herauf, um
zu fragen, ob Charity nicht zum Essen komme; doch sie schüttelte den Kopf, und
die Alte ging wieder weg und sagte: »Dann deck' ich's zu.«
    Die Sonne drehte sich weiter und
wanderte aus dem Zimmer, und Charity setzte sich ans Fenster und blickte durch
die halbgeöffneten Läden die Dorfstraße hinunter. Nicht ein Gedanke war in
ihrem Kopf, nur ein dunkler Strudel sich drängender Bilder; und sie beobachtete
die Leute, die auf der Straße vorbeikamen, Dan Targatts Gespann, das mit einer
Ladung Kiefernstämmen nach Hepburn unterwegs war, das alte weiße Pferd des
Küsters, das an der Böschung auf der anderen Straßenseite graste, als betrachte
sie diese vertrauten Szenen von jenseits des Grabes.
    Sie wurde aus diesem dumpfen
Dämmerzustand gerissen, als sie Ally Hawes bei Frys aus der Tür treten und mit
ihrem ungleichmäßigen hinkenden Gang langsam auf das rote Haus zukommen sah.
Bei diesem Anblick stellte sich die zerrissene Verbindung zur Wirklichkeit
wieder her. Charity erriet, daß Ally zu ihr kam, um etwas über den gestrigen
Tag zu erfahren: niemand sonst war in das Geheimnis des Ausflugs nach Nettleton
eingeweiht, und Ally war zutiefst geschmeichelt gewesen, daß sie davon
erfahren durfte.
    Bei dem Gedanken, sie sehen zu
müssen, ihrem Blick begegnen und auf ihre Fragen antworten oder ihnen
ausweichen zu müssen, stürzte der ganze Schrecken der Ereignisse der letzten
Nacht wieder auf Charity ein. Was ein fiebriger Alptraum gewesen war, wurde zur
nackten, unumstößlichen Tatsache. Die arme Ally verkörperte in diesem
Augenblick North Dormer mit all seiner niederträchtigen Neugier, seiner
verstohlenen Bosheit, seiner geheuchelten Unkenntnis der Sünde. Charity wußte,
daß, obwohl angeblich alle Beziehungen zu Julia abgebrochen waren, die
weichherzige Ally noch immer insgeheim in Verbindung mit ihr stand; und
zweifellos würde Julia triumphierend die Gelegenheit nutzen, sich über den
Skandal am Bootssteg zu verbreiten. Übertrieben und verzerrt war die
Geschichte wahrscheinlich bereits auf dem Weg nach North Dormer.
    Mit ihrem schleppenden Gang hatte
sich Ally noch nicht weit von Frys Tor entfernt, als sie von der alten Mrs.
Sollas angehalten wurde, einer großen Schwätzerin, die sehr langsam sprach,
weil sie sich noch immer nicht an ihre neuen Zähne aus Hepburn hatte gewöhnen
können. Aber auch dieser Aufschub würde nicht lange dauern; in zehn Minuten
stünde Ally vor der Tür, und Charity würde hören, wie sie Verena in der Küche
begrüßte und dann mit zittriger Stimme vom Fuß der Treppe nach ihr riefe.
    Plötzlich wurde ihr bewußt, daß
Flucht, sofortige Flucht, der einzig vorstellbare Ausweg war. Das Verlangen zu
entfliehen, vertrauten Gesichtern, Orten, an denen man sie kannte, zu
entkommen, war bei ihr in Augenblicken der Verzweiflung immer stark gewesen.
Wie ein Kind glaubte sie, daß eine fremde Umgebung und neue Gesichter die wundersame
Macht besäßen, ihr Leben zu verändern und bittere Erinnerungen auszulöschen.
Aber solche Regungen waren nur flüchtige Launen, verglichen mit der kühlen
Entschlossenheit, die sich ihrer nun bemächtigt hatte. Ihr schien, sie könne
keine Stunde länger unter dem Dach des Mannes bleiben, der sie öffentlich
entehrt hatte, und Leuten gegenübertreten, die sich bald schadenfroh an

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