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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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lief durch die Gruppe;
und dann, sie alle überragend und, verzweifelt um einen aufrechten Gang bemüht
und sich am Geländer festhaltend, trat Mr. Royall steifbeinig an Land. Wie die
jungen Männer aus der Gruppe trug er das Abzeichen einer Geheimgesellschaft im
Knopfloch seines schwarzen Gehrocks. Auf
dem Kopf hatte er einen neuen Panamahut, und seine schmale schwarze Krawatte
mit gelockertem Knoten baumelte auf seine zerknitterte Hemdbrust herab. Sein
Gesicht, fahlbraun, mit roten Zornesflecken und eingesunkenen Lippen wie bei
einem Greis, wirkte in der grellen Beleuchtung wie eine klägliche Ruine.
    Er kam direkt hinter Julia Hawes und
hatte eine Hand auf ihren Arm gelegt; aber als er an Land war, machte er sich
frei und entfernte sich ein, zwei Schritte von seinen Gefährten. Er hatte
Charity sofort gesehen, und sein Blick glitt langsam von ihr zu Harney, der immer
noch einen Arm um sie gelegt hielt. Er stand da und starrte die beiden an,
bemüht, das greisenhafte Beben seiner Lippen unter Kontrolle zu bringen; dann
richtete er sich mit der zitterigen Majestät des Betrunkenen auf und streckte
den Arm aus.
    »Du Hure – du verdammte barhäuptige
Hure du!« sagte er langsam und deutlich.
    Die kleine Gesellschaft reagierte
mit beschwipstem Gelächter, und Charity griff sich unwillkürlich mit beiden
Händen an den Kopf. Ihr fiel ein, daß ihr der Hut vom Schoß gefallen war, als
sie aufsprang, um die Tribüne zu verlassen; und plötzlich ging ihr auf, wie
sie aussehen mußte: ohne Hut, mit zerzausten Haaren, den Arm eines Mannes um ihre
Taille, vor sich diese betrunkene Bande, die angeführt wurde von der jämmerlichen
Gestalt ihres Vormunds. Das Bild erfüllte sie mit Scham. Seit ihrer Kindheit
wußte sie über Mr. Royalls »Gewohnheiten« Bescheid: hatte ihn, wenn sie zu Bett
ging, mit verdrossener Miene, eine Flasche in Reichweite, in seinem
Arbeitszimmer sitzen sehen, oder wenn er müde und streitsüchtig von seinen
Geschäftsreisen aus Hepburn oder Springfield zurückkam; aber die Vorstellung,
daß er sich in aller Öffentlichkeit in Gesellschaft von übel beleumdeten
Mädchen und Tagedieben sehen ließ, war neu und erschreckend für sie.
    »Oh ...«, flüsterte sie, von Jammer
überwältigt; dann löste sie sich aus Harneys Arm und ging direkt auf Mr. Royall
zu. »Du kommst jetzt heim mit mir – du kommst sofort heim mit mir«, sagte sie
mit leiser, strenger Stimme, als habe sie nicht gehört, mit welchen Worten er
sie angesprochen hatte; und eines der Mädchen rief: »Sagt mal, wieviele Kerle
will die eigentlich?«
    Wieder ertönte Gelächter, gefolgt
von einer gespannten Pause, während der Mr. Royall Charity unverwandt
anstarrte. Schließlich öffneten sich seine zuckenden Lippen. »Ich hab' gesagt:
›Du – verdammte – Hure!‹« sagte er noch einmal ganz deutlich und hielt
sich dabei an Julias Schulter fest.
    Gelächter und spöttische Rufe
ertönten nun aus dem Kreis derer, die die Gruppe umstanden; und eine Stimme
rief von der Laufplanke her: »Nun, Leute, wird's bald? Alle an Bord!« Das
Gedrängel der Passagiere riß die Akteure der kurzen Szene auseinander. Charity
klammerte sich an Harneys Arm und schluchzte verzweifelt. Mr. Royall war
verschwunden, nur aus der Ferne hörte sie das leiser werdende Lachen Julias.
Das Schiff, beladen bis zur Heckreling, dampfte davon zu seiner letzten Fahrt.

11
    Um zwei Uhr am Morgen brachte der
sommersprossige Junge aus Creston sein müdes Pferd vor der Tür des roten
Hauses zum Stehen, und Charity stieg aus. Harney hatte sich von ihr in Creston
River verabschiedet und den Jungen beauftragt, sie nach Hause zu fahren. Sie
war immer noch wie betäubt vor Kummer und erinnerte sich nicht sehr deutlich
an das, was geschehen war, oder was sie in der endlosen Zeitspanne seit ihrer
Abfahrt von Nettleton miteinander gesprochen hatten; doch der Instinkt des
verletzten Tiers, sich zu verstecken, war so stark in ihr, daß sie erleichtert
war, als Harney ausstieg und sie allein weiterfuhr.
    Der Vollmond hing über North Dormer
und bleichte den Dunst, der die Senken zwischen den Hügeln füllte und
durchscheinend über den Feldern schwebte. Charity blieb einen Augenblick am
Tor stehen und blickte in die schwindende Nacht. Sie sah zu, wie der Junge
wegfuhr und der Kopf des Pferdes schwerfällig auf und ab nickte; dann ging sie
ums Haus zur Küchentür und tastete unter der Matte nach dem Schlüssel. Sie fand
ihn, schloß die Tür auf und ging ins Haus. Die Küche war

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