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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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Sündenlast bei Ihm abladen?« fragte er in schmeichelndem
Ton und legte seine Hand auf ihren Arm.
    Charity starrte ihn an und errötete.
Einen Augenblick lang glaubte sie, der Wanderprediger müsse etwas über die
Szene in Nettleton gehört haben; dann erkannte sie, wie unsinnig diese Annahme
war.
    »Ich
wünschte bloß, ich hätt' was abzuladen!« erwiderte sie in einer ihrer hitzigen
selbstironischen Anwandlungen, und der junge Mann murmelte bestürzt: »Oh,
Schwester, du sollst nicht Gott lästern ...«
    Aber Charity hatte ihren Arm bereits
seinem Griff entzogen und rannte die Abzweigung hinauf, zitternd vor Furcht,
einem vertrauten Gesicht zu begegnen. Nun war sie vom Dorf aus nicht mehr zu
sehen und auf dem Weg ins Waldesinnere. Sie konnte nicht hoffen, noch an diesem
Nachmittag die fünfzehn Meilen bis zum Berg zu schaffen; aber sie kannte eine
Stelle auf halbem Weg nach Hamblin, wo sie schlafen konnte und wo niemand nach
ihr suchen würde. Es war ein kleines verlassenes Haus, das an einem Hang in
einem der einsamen Einschnitte zwischen den Hügeln lag. Sie war schon einmal
vor Jahren dort gewesen, als sie auf einem Ausflug in das darunter gelegene
Walnußwäldchen zum Nüsse sammeln gegangen war. Die kleine Gesellschaft hatte
sich vor einem plötzlich aufgekommenen Gebirgssturm in das Haus geflüchtet,
und Charity erinnerte sich, daß Ben Sollas, der Mädchen gern einen Schrecken
einjagte, ihnen erzählt hatte, angeblich spuke es darin.
    Allmählich fühlte sie sich erschöpft
und müde, denn sie hatte seit dem Morgen nichts gegessen und war es nicht
gewohnt, so lange zu gehen. Ihr war ein wenig schwindlig, und sie setzte sich
einen Augenblick an den Wegrand. Da hörte sie plötzlich das Klingeln einer Fahrradglocke und sprang auf, um
sich im Wald zu verstecken; doch bevor sie loslaufen konnte, bog das Fahrrad
um die Kurve, und Harney, der abgesprungen war, kam ihr mit ausgestreckten
Armen entgegen.
    »Charity! Was in aller Welt tust du
hier?«
    Sie starrte ihn an, als sei er eine
Erscheinung, und sein unvermutetes Auftauchen überraschte sie so sehr, daß sie
kein Wort über die Lippen brachte.
    »Wo wolltest du hin? Hast du
vergessen, daß ich kommen wollte?« fuhr er fort, während er versuchte, sie an
sich zu ziehen; doch sie fuhr vor seiner Umarmung zurück.
    »Ich wollte weg – ich will dich
nicht mehr sehen – ich will, daß du mich in Ruhe läßt«, stieß sie heftig
hervor.
    Er sah sie an, und sein Gesicht
wurde ernst, als werde es vom Schatten einer Ahnung gestreift.
    »Weg – von mir, Charity?«
    »Von allen. Ich will, daß du mich in
Frieden läßt.«
    Er stand da und blickte unschlüssig
den einsamen Waldweg entlang, der sich in weiten, sonnengefleckten Fernen
verlor.
    »Wo wolltest du denn hin?«
    »Nach Hause.«
    »Nach Hause – in dieser Richtung?«
    Sie warf trotzig den Kopf in den
Nacken. »Zu mir nach Hause – dort hinauf: zum Berg.«
    Während sie sprach, merkte sie, daß
seine Miene sich veränderte. Er hörte ihr nicht mehr zu, er sah sie nur an mit
dem leidenschaftlichen, gedankenvollen Ausdruck, den sie in seinen Augen
gesehen hatte, nachdem sie sich auf der Tribüne in Nettleton geküßt hatten. Er
war wieder der neue Harney, der Harney, der sich ihr plötzlich in dieser
Umarmung gezeigt hatte und der von der Freude über ihre Gegenwart so
durchdrungen schien, daß es ihm völlig gleichgültig war, was sie fühlte oder
dachte.
    Lachend ergriff er ihre Hände. »Was
meinst du, wie ich dich gefunden habe?« fragte er fröhlich. Er zog das Bündel
mit seinen Briefen aus der Tasche und schwenkte es vor ihren verwunderten Augen
hin und her.
    »Du hast sie fallen lassen, du
unachtsames junges Ding – mitten auf der Straße fallen lassen, gar nicht weit
von hier; und der junge Mann vom Missionszelt hob sie gerade in dem Augenblick
auf, als ich vorbeikam.« Er trat einen Schritt zurück, hielt Charity auf
Armeslänge von sich entfernt und studierte ihr verwirrtes Gesicht mit dem aufmerksam
forschenden Blick seiner kurzsichtigen Augen.
    »Hast du wirklich geglaubt, du
könntest vor mir weglaufen? Du siehst, es sollte nicht sein«, sagte er; und
bevor sie antworten konnte, küßte er sie erneut, nicht stürmisch, sondern
zärtlich, fast brüderlich, als habe er ihren fassungslosen Kummer erraten und
wolle ihr sagen, daß er sie verstehe. Er flocht seine Finger in ihre.
    »Komm – laufen wir ein Stückchen.
Ich möchte mit dir reden. Es gibt so viel zu sagen.«
    Er sprach mit der

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