Edith Wharton
Fröhlichkeit eines
Knaben, sorglos und zuversichtlich, als sei nichts geschehen, was sie beide
beschämen oder in Verlegenheit bringen könnte; und einen Augenblick lang, in der
plötzlichen Erlösung von ihrer einsamen Qual, fühlte sie, wie sie seiner Stimmung
nachgab. Aber er hatte sich umgedreht und führte sie die Straße zurück, die sie
gekommen war. Sie erstarrte und blieb stehen.
»Ich geh' nicht zurück«, sagte sie.
Sie sahen einander eine Weile
schweigend an; dann antwortete er freundlich: »Gut: dann gehen wir eben in die
andere Richtung.«
Sie blieb reglos stehen und sah
stumm zu Boden, während er fortfuhr: »Gibt es da oben nicht irgendwo ein Haus —
ein kleines verlassenes Haus –, das du mir irgendwann einmal zeigen wolltest?«
Sie gab immer noch keine Antwort, und er sprach weiter, in demselben zärtlichen,
beruhigenden Ton: »Komm, laß uns jetzt dahin gehen, uns hinsetzen und in Ruhe
miteinander reden.« Er ergriff eine ihrer Hände, die seitlich herabhingen, und
preßte seine Lippen auf die Handfläche. »Glaubst du, ich lasse zu, daß du mich
wegschickst? Glaubst du, ich begreife nicht?«
Das kleine alte Haus – die Holzwände von der Sonne zu
einem geisterhaften Grau gebleicht – stand in einem Obstgarten oberhalb der
Straße. Die Zaunpfähle waren umgefallen, aber das zerbrochene Tor hing noch zwischen
seinen Pfosten, und der Weg zum Haus war von verwilderten Rosenbüschen gesäumt,
deren kleine blasse Blüten über wuchernde Gräser herabhingen. Schlanke Pfeiler
und ein kunstvoll geschnitztes Oberlicht rahmten die Öffnung, in der früher
die Tür gewesen war; die Tür selbst, auf die ein
alter Apfelbaum gefallen war, vermoderte im Gras.
Auch im Innern hatten Wind und
Wetter alles zu dem gleichen fahlen Silberton gebleicht; das Haus war so
trocken und sauber wie das Innere einer längst ausgetrockneten Muschel. Aber
es mußte außergewöhnlich solide gebaut worden sein, denn die kleinen Zimmer
hatten noch immer etwas von ihrem menschlichen Aspekt bewahrt: die hölzernen
Kamineinfassungen mit ihren strengen klassischen Ornamenten waren noch an ihrem
Platz, und die Ecken einer Zimmerdecke zeigten noch eine dünne Schicht ihrer
Stuckverzierung.
Harney hatte an der Hintertür eine
alte Bank gefunden und schleppte sie ins Haus. Charity nahm darauf Platz und
lehnte den Kopf in einem Zustand schläfriger Mattigkeit gegen die Wand. Er
hatte erraten, daß sie hungrig und durstig war, und hatte ihr ein paar Tafeln
Schokolade aus seiner Fahrradtasche gebracht und seinen Trinkbecher aus der
Quelle im Obstgarten gefüllt; nun saß er zu ihren Füßen, rauchte eine Zigarette
und blickte wortlos zu ihr auf. Draußen wurden die nachmittäglichen Schatten
auf dem Gras länger, und durch den leeren Fensterrahmen gegenüber sah sie den
Berg, der mit seiner dunklen Masse gegen einen schwülen Sonnenuntergang
andrängte. Es wurde Zeit zu gehen.
Sie erhob sich, und auch er sprang
auf und schob besitzergreifend seinen Arm unter ihren. »Hör zu, Charity, du
kommst jetzt mit mir zurück.«
Sie sah ihn an und schüttelte den
Kopf. »Ich geh' nie mehr zurück. Du verstehst das nicht.«
»Was verstehe ich nicht?« Sie
schwieg, und er fuhr fort: »Was am Bootssteg passiert ist, war schrecklich – es
ist ganz natürlich, daß du so empfindest. Aber im Grunde macht es wirklich
nichts: dich können solche Dinge nicht treffen. Du mußt versuchen zu vergessen.
Und du mußt zu verstehen suchen, daß Männer ... Männer manchmal ...«
»Ich kenne mich aus mit Männern.
Deshalb ja.«
Auf ihre scharfe Erwiderung errötete
er leicht, als habe sie ihn auf eine Weise getroffen, von der Charity nichts
ahnte.
»Nun, dann ... weißt du auch, daß
man ihnen manchmal etwas zugute halten muß ... Er hatte getrunken ...«
»Auch da kenne ich mich aus. Ich
hab' ihn schon früher so erlebt. Aber er hätte es nicht gewagt, so mit mir zu
sprechen, wenn er nicht ...«
»Wenn er nicht was? Was meinst du
damit?«
»Sich nicht gewünscht hätte, daß ich
so wie diese anderen Mädchen wär ...« Sie senkte die Stimme und wandte den
Blick von ihm ab. »Damit er nicht aus dem Haus muß ...«
Harney starrte sie an. Einen
Augenblick lang schien er nicht zu begreifen, was sie gemeint hatte; dann verdüsterte
sich sein Gesicht. »Der verdammte Hund! Dieser niederträchtige Schweinehund!«
Sein Zorn flammte auf, und er wurde rot bis an die Schläfen. »Ich hätte mir nie
träumen lassen – großer Gott, wie widerlich«, und er
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