Edith Wharton
Blaßgrün wie ein kalter Bergsee im Schatten. Charity lag da, sah
hinauf und hielt Ausschau nach dem ersten weißen Stern ...
Ihr Blick war immer noch auf die
oberen Gefilde des Himmels gerichtet, als sie merkte, daß ein Schatten durch
das vom Abendrot überflutete Zimmer gehuscht war: das mußte Harney gewesen
sein, der vor der untergehenden Sonne am Fenster vorbeigegangen war ... Sie
richtete sich halb auf und ließ sich dann wieder auf ihre verschränkten Arme
zurückfallen. Die Kämme waren ihr aus dem Haar gerutscht, und es zog sich wie
ein kräftiges dunkles Seil über ihre Brust. Sie lag ganz still da, ein
schläfriges Lächeln auf den Lippen, die trägen Lider halb geschlossen. Jemand
machte sich an dem Vorlegeschloß zu schaffen, und sie rief: »Hast du die Kette
losgemacht?« Die Tür ging auf, und Mr. Royall trat ins Zimmer.
Sie fuhr hoch und lehnte sich gegen
die Kissen; wortlos sahen sie einander an. Dann schloß Mr. Royall die Tür und
ging ein paar Schritte auf sie zu.
Charity sprang auf. »Warum bist du
hergekommen?« stammelte sie.
Das letzte Leuchten des
Sonnenuntergangs lag auf dem Gesicht ihres Vormunds, das in dem gelben Glanz
aschfahl wirkte. »Weil ich wußte, daß du hier bist«, antwortete er schlicht.
Sie hatte bemerkt, daß ihr das Haar
offen auf die Brust hing, und es schien ihr, als könne sie erst mit ihm reden,
wenn sie sich die Frisur geordnet hätte. Sie griff nach ihren Kämmen und
versuchte, das Haar aufzustecken. Mr. Royall sah ihr schweigend zu.
»Charity«, sagte er, »er wird jeden
Augenblick hier sein. Laß mich zuvor mit dir reden.«
»Du hast kein Recht, mit mir zu
reden. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
»Ja. Und was willst du tun?«
»Ich brauche nicht darauf zu
antworten, auch auf alles andere nicht.«
Er hatte den Blick abgewandt und sah
sich neugierig in dem von der Sonne beleuchteten Zimmer um. Violette Astern
und rote Ahornblätter füllten den Krug auf dem Tisch; auf einem Bord an der
Wand standen eine Lampe, der Wasserkessel, ein kleiner Stapel Tassen und
Untertassen. Die mit Segeltuch bespannten Stühle waren um den Tisch gruppiert.
»Also hier trefft ihr euch«, sagte
er.
Sein Ton war ruhig und beherrscht,
und das brachte sie aus der Fassung. Sie war darauf vorbereitet gewesen, ihm
Heftigkeit mit Heftigkeit zu vergelten, aber daß er die Dinge, wie sie waren,
so ruhig hinnahm, machte sie wehrlos.
»Hör zu, Charity – du sagst mir
dauernd, ich hätte keine Rechte über dich. Man könnte die Sache so oder so
sehen – aber das will ich jetzt nicht erörtern. Ich weiß nur, daß ich dich, so
gut ich konnte, großgezogen und es immer gut mit dir gemeint habe – außer
einmal, eine schlimme halbe Stunde lang. Es ist
nicht gerecht, diese halbe Stunde gegen alles andere aufzuwiegen, und das weißt
du. Sonst hättest du nicht weiterhin unter meinem Dach gelebt. Und mir scheint,
dein Verhalten gibt mir eine Art Recht; das Recht zu versuchen, dich vor
Schwierigkeiten zu bewahren. Ich verlange nicht, daß du irgendwelche anderen
Rechte in Betracht ziehst.«
Sie hörte schweigend zu und stieß
dann ein leises Lachen aus. »Wart' lieber, bis ich in Schwierigkeiten bin«,
sagte sie.
Er schwieg einen Augenblick, als
wäge er ihre Worte. »Ist das deine ganze Antwort?«
»Ja, das
ist alles.«
»Gut – ich
werde warten.«
Er wandte sich langsam um, doch
während er sich umdrehte, geschah das, worauf Charity gewartet hatte; die Tür
ging auf, und Harney trat ein.
Er blieb überrascht stehen, hatte
sich aber rasch wieder in der Gewalt und ging mit freimütigem Blick auf Mr.
Royall zu.
»Wollten Sie mich besuchen kommen,
Sir?« sagte er kühl und warf seine Mütze mit Besitzermiene auf den Tisch.
Wieder sah
sich Mr. Royall langsam im Zimmer um; dann richtete er den Blick auf den jungen
Mann. »Ist das Ihr Haus?« fragte er.
Harvey lachte. »Nun ja – ebensogut
wie das von jedem anderen. Ich komme gelegentlich hierher, um zu zeichnen.«
»Und Miss Royall zu empfangen?«
»Wenn sie mir die Ehre erweist ...«
»Ist das das Heim, in das Sie sie
bringen wollen, wenn Sie heiraten?«
Es folgte ein unendlich langes,
bedrückendes Schweigen. Charity, bebend vor Zorn, trat einen Schritt vor und
blieb dann stumm stehen, zu gedemütigt, um etwas sagen zu können. Harney hatte
die Augen vor dem Blick des alten Mannes niedergeschlagen, nun aber hob er sie
wieder, und Mr. Royall fest ins Gesicht blickend sagte er: »Miss Royall ist
kein Kind. Ist es nicht
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