Edith Wharton
Haltung vertrauensvoller Zuneigung, als habe sie ein seltsamer Tod
überrascht. Schließlich sprang Harney mit einem leichten Erschauern auf. »Mein
Gott, wie feucht es ist – wir hätten nicht mehr lange herkommen können.« Er
ging zu dem Bord, holte einen Kerzenleuchter aus Zinn herunter und zündete die
Kerze an; dann lehnte er einen ausgehängten Fensterladen in den leeren
Fensterrahmen und stellte die Kerze auf den Tisch. Sie warf einen merkwürdigen
Schatten auf seine gerunzelte Stirn und verwandelte das Lächeln auf seinen
Lippen in eine Grimasse.
»Aber es war doch schön, nicht wahr,
Charity ...? Was ist los – warum stehst du da und starrst mich an? Waren die
Tage hier nicht schön?« Er ging auf sie zu und zog sie an seine Brust. »Und es
wird andere geben – noch viele ... vergnügtere ... sogar noch vergnügtere ...
nicht wahr, Liebste?«
Er beugte ihren Kopf nach hinten,
tastete nach der Biegung ihres Halses unter dem Ohr und küßte sie dorthin und
auf das Haar und die Augen und die Lippen. Verzweifelt klammerte sie sich an
ihn, und als er sie auf dem Lager auf seine Knie zog, hatte sie das Gefühl, als
würden sie gemeinsam in einen bodenlosen Abgrund hinabgesogen.
15
An diesem Abend nahmen sie wie gewöhnlich am Waldrand
Abschied voneinander. Harney wollte am nächsten Morgen früh aufbrechen. Er bat
Charity, bis zu seiner Rückkehr niemandem etwas von ihren Plänen zu erzählen,
und sie war, zu ihrem eigenen Erstaunen, froh über den Aufschub. Wie Blei
lastete die Scham auf ihr und lähmte jedes andere Gefühl, und sie sagte Harney
Lebewohl fast ohne jede Gefühlsregung. Seine wiederholten Versprechen,
zurückzukehren, erschienen beinahe verletzend. Sie zweifelte nicht daran, daß
er wiederkommen würde; ihre Zweifel waren viel tiefer und weniger benennbar.
Seit der schwärmerischen
Zukunftsvision, die nach der ersten Begegnung in ihrer Phantasie aufgeblitzt
war, hatte sie kaum wieder daran gedacht, daß er sie heiraten könne. Sie hatte
den Gedanken nicht aus ihrem Kopf verbannen müssen; er war gar nicht dagewesen.
Wenn sie überhaupt in die Zukunft blickte, dann spürte sie instinktiv, daß die
Kluft zwischen ihnen zu tief war und daß die Brücke, die ihrer beider
Leidenschaft hinüber geschlagen hatte, so wenig greifbar war wie ein Regenbogen.
Aber sie blickte selten in die Zukunft; jeder Tag war so erfüllt, daß er sie ganz
in Beschlag nahm ... Jetzt war ihre erste Empfindung, daß alles anders sein und
daß auch sie zu etwas ganz anderem für Harney würde. Statt isoliert und
einzigartig zu bleiben, würde sie mit vielen Menschen verglichen werden, und
unbekannte Dinge würde man von ihr erwarten. Sie war zu stolz, um sich zu
fürchten, aber ihre innere Freiheit erlahmte ..
Harney hatte keinerlei Termin für
seine Rückkehr genannt; er hatte gesagt, er werde sich zunächst umsehen und
verschiedene Dinge regeln müssen. Er hatte versprochen, er werde schreiben,
sobald etwas entschieden sei, hatte ihr seine Adresse hinterlassen und sie
gebeten, ebenfalls zu schreiben. Aber die Adresse machte ihr Angst. Sie nannte
einen Club in New York mit einem langen Namen an der Fifth Avenue: sie schien
eine unüberwindliche Barriere zwischen ihnen aufzurichten. In den ersten Tagen
holte sie ein-, zweimal ein Blatt Papier hervor, setzte sich davor und starrte
es an und versuchte darüber nachzudenken, was sie schreiben könnte; aber sie
hatte das Gefühl, ihr Brief würde nie seinen Bestimmungsort erreichen. Sie
hatte nie an jemanden geschrieben, der weiter als in Hepburn wohnte.
Harneys erster Brief kam nach
ungefähr zehn Tagen. Er war liebevoll, aber ernst, und erinnerte kein bißchen
an die fröhlichen kleinen Notizen, die er ihr von dem sommersprossigen Jungen
aus Creston River hatte überbringen lassen. Er sprach mit Bestimmtheit von
seiner Absicht, wiederzukommen, nannte aber kein Datum und erinnerte Charity an ihre
Abmachung, daß ihre Pläne nicht bekannt werden dürften, bis er die Zeit
gefunden habe, »alles zu regeln«. Wann das sein würde, könne er noch nicht
voraussagen; aber sie könne mit seiner Rückkehr rechnen, sobald die Wege
geebnet wären.
Charity las den Brief mit dem
seltsamen Gefühl, er komme aus unermeßlicher Ferne und habe das meiste von
seiner Bedeutung unterwegs verloren; als Antwort schickte sie ihm eine farbige
Postkarte von den Wasserfällen von Creston, auf die sie schrieb: »In Liebe —
Charity.« Sie spürte, wie kläglich unangemessen ihre Antwort war,
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