Edith Wharton
sehen. Sie erkannte auf den ersten Blick die schlanke Gestalt,
das helle, unter dem Hut hochgesteckte Haar, die langen, blassen, gefältelten
Handschuhe, über die Armbänder gestreift waren. Als der Zweig zu Boden fiel,
wandte Miss Balch den Kopf zur Bühne, und in ihrem hübschen schmallippigen
Lächeln verweilte noch der Abglanz von etwas, das ihr Nachbar ihr zugeflüstert
hatte ...
Jemand trat vor, um den umgefallenen
Zweig wieder hinzustellen, und Miss Balch und Harney waren Charitys Blicken
wieder entzogen. Für Charity hatte jedoch der Anblick der beiden Gesichter
alles andere ausgelöscht. Blitzartig hatten sie ihr die nackte Wahrheit über
ihre Lage enthüllt. Hinter dem zerbrechlichen Schirm der Liebkosungen ihres
Liebsten war das ganze unergründliche Geheimnis seines Lebens verborgen: seine
Beziehungen zu anderen Menschen – zu anderen Frauen –, seine Ansichten, seine
Vorurteile, seine Prinzipien, das Netz von Einflüssen und Interessen und
Ambitionen, in das jedermann verstrickt ist. Von alledem wußte sie nichts,
außer was er ihr von seinen architektonischen Bestrebungen erzählt hatte. Sie
hatte stets geahnt, daß er mit wichtigen Leuten in Verbindung stand, in komplizierte
Beziehungen verstrickt war – aber sie hatte das Gefühl gehabt, dies alles
übersteige ihr Vorstellungsvermögen bei weitem, so daß das ganze Thema wie ein leuchtender
Dunstschleier im entferntesten Winkel ihrer Gedanken hing. Im Vordergrund
standen, alles andere verbergend, der Glanz seiner Gegenwart, Licht und
Schatten seines Gesichts, die Art, wie seine kurzsichtigen Augen, wenn sie auf
ihn zuging, größer und tiefer wurden, als wollte er Charity in sie
hineinziehen; und vor allem die Glut der Jugend und Zärtlichkeit, mit der seine
Worte sie umhüllten.
Nun sah sie ihn von sich losgelöst,
sah, wie er ins Unbekannte entglitt und einem anderen Mädchen Dinge
zuflüsterte, die dasselbe Lächeln schelmischer Komplizenschaft hervorriefen,
das er so oft auf ihre Lippen gezaubert hatte. Das Gefühl, das sie
beherrschte, war nicht Eifersucht: zu sicher war sie seiner Liebe. Es war eher
Entsetzen vor dem Unbekannten, vor all den geheimnisvollen Reizen, die ihn
selbst in diesem Augenblick von ihr wegzogen, und vor ihrer Machtlosigkeit, es
mit ihnen aufzunehmen.
Sie hatte ihm alles gegeben, was sie
hatte – aber was war das schon, verglichen mit den anderen Gaben, die das Leben
für ihn bereithielt? Sie begriff nun die Lage von Mädchen wie ihr, denen so
etwas widerfuhr. Sie gaben alles, was sie hatten, aber ihr Alles war nicht
genug: es konnte ihnen nur ein paar Augenblicke erkaufen.
Die Hitze war drückend geworden —
Charity spürte, wie sie sich in erstickenden Wogen auf sie herabsenkte, und die
Gesichter in dem überfüllten Saal fingen an zu tanzen, so wie die Bilder auf
der Leinwand in Nettleton geflimmert hatten. Einen Moment lang löste sich Mr.
Royalls Gesicht aus dem verschwommenen Durcheinander. Er hatte seinen Platz vor dem
Harmonium wieder eingenommen und saß ganz in ihrer Nähe, den Blick auf ihr
Gesicht geheftet; und dieser Blick schien bis ins Innerste ihrer verworrenen
Empfindungen zu dringen ... Ein Gefühl körperlichen Unwohlseins überkam sie —
und dann eine entsetzliche Ahnung. Das Licht der leidenschaftlichen Stunden in
dem kleinen Haus überflutete sie jetzt mit dem grellen Schein der Furcht. Sie
zwang sich, den Blick von ihrem Vormund abzuwenden, und merkte, daß der
Redefluß des Hatchardschen Cousins aufgehört hatte und Mr. Miles wieder mit
seinen Flügeln schlug. Bruchstücke seiner Ansprache schwirrten durch ihr
verstörtes Hirn. »... Eine reiche Ernte geheiligter Erinnerungen ... eine
geweihte Stunde, zu der in Zeiten schwerer Prüfungen unsere Gedanken andächtig
zurückkehren werden ... Und nun, o Herr, lasset uns demütig und inbrünstig Dank
sagen für diesen gesegneten Tag der Wiedervereinigung hier in der alten
Heimat, zu der wir von so weit zurückgekehrt sind. Bewahre sie uns fürderhin, o
Herr, in all ihrer schlichten Lieblichkeit – in der Freundlichkeit und Weisheit
ihrer alten Menschen, im Mut und Fleiß ihrer jungen Männer, in der Frömmigkeit
und Reinheit dieser Schar unschuldiger Mädchen.« Er wedelte mit seinen weißen
Flügeln in ihre Richtung, und im selben Augenblick stimmte Lambert Sollas unter
heftigem Nicken die ersten Akkorde von »Auld Long Syne« an ... Charity sah starr
geradeaus, dann ließ sie ihre Blumen fallen und stürzte mit dem Gesicht nach
unten vor Mr.
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