Edith Wharton
ziemlich absurd, von ihr zu sprechen, als wäre sie
eins? Ich glaube, sie ist der Ansicht, es stehe ihr frei, zu kommen und zu
gehen, wie es ihr paßt, ohne daß irgend jemand Fragen stellt.« Er hielt inne,
dann fügte er hinzu: »Ich bin bereit, jede Frage zu beantworten, die sie mir
stellen möchte.«
Mr. Royall wandte sich an Charity.
»Dann frag ihn, wann er dich heiraten wird ...« Es folgte wieder ein Schweigen,
und er lachte nun seinerseits – ein brüchiges Lachen mit einem kratzenden
Unterton. »Du wagst es nicht!« brach es plötzlich leidenschaftlich aus ihm hervor.
Er trat dicht an Charity heran, den rechten Arm erhoben, nicht als Drohung,
sondern als tragische Ermahnung.
»Du wagst es nicht, und das weißt du – und du weißt auch, warum!« Abrupt wandte er sich wieder dem jungen Mann zu.
»Und Sie wissen, warum Sie sie nicht gefragt haben, ob sie Sie heiraten will,
und warum Sie das auch nicht vorhaben. Weil Sie es nämlich nicht zu tun brauchten: weder Sie noch irgendein
anderer. Ich bin der einzige, der so dumm war, es nicht zu wissen; und ich
glaube, niemand wird meinen Fehler wiederholen – jedenfalls niemand in Eagle
County. Alle wissen, was sie ist und woher sie kam. Alle wissen, daß ihre
Mutter eine Frau aus Nettleton war, die einem dieser Kerle vom Berg
nachgelaufen ist und dort oben wie eine Heidin mit ihm gelebt hat. Ich habe sie
vor sechzehn Jahren gesehen, als ich hinaufstieg, um dieses Kind herunterzuholen.
Ich ging, um sie vor dem Leben zu bewahren, das ihre Mutter führte – aber ich
hätte sie besser in dem elenden Loch gelassen, aus dem sie kam ...«
Er hielt inne und starrte düster auf
die beiden jungen Leute, dann über sie hinweg auf den bedrohlichen Berg mit
seinem Saum aus Feuer; schließlich setzte er sich an den Tisch, auf dem sie so
oft ihr einfaches Mahl angerichtet hatten, und bedeckte sein Gesicht mit den
Händen. Harney lehnte mit finsterer Miene am Fenster: an den Fingern drehte er
ein kleines Päckchen, das an einer Schnur herabhing ... Charity hörte, wie Mr.
Royall ein-, zweimal tief Atem holte, und seine Schultern zitterten ein wenig.
Wenig später erhob er sich und durchquerte das Zimmer. Er blickte die beiden
jungen Leute nicht mehr an: sie sahen, wie er sich zur Tür tastete und nach dem
Riegel suchte; dann trat er in die Dunkelheit hinaus. Als er gegangen war,
herrschte ein langes Schweigen. Charity wartete, daß Harney etwas sagte; aber
er schien zunächst keine Worte zu finden. Schließlich brachte er ohne jeden
Zusammenhang hervor: »Ich frage mich, wie er es herausgefunden hat.«
Sie gab keine Antwort, und er warf
das Päckchen hin, das er in der Hand gehalten hatte, und kam auf sie zu.
»Es tut mir so leid, Liebste ..., daß
das passieren mußte ...«
Sie warf stolz den Kopf zurück. »Mir
hat es nie leid getan – keinen einzigen Augenblick!«
»Nein.«
Sie wartete, daß er sie in die Arme
nähme, aber er wandte sich unschlüssig von ihr weg. Das letzte Leuchten hinter
dem Berg war verschwunden. Alles im Zimmer war grau und schattenhaft geworden,
und herbstliche Feuchtigkeit kroch von der Mulde unterhalb des Obstgartens
herauf und legte ihre kalte Hand auf ihre glühenden Gesichter. Harney schritt
durch die Länge des ganzen Raumes, kam dann zurück und setzte sich an den
Tisch.
»Komm«, sagte er gebieterisch.
Sie setzte sich neben ihn, und er
löste die Schnur von dem Päckchen und legte einen Stapel belegter Brote auf den
Tisch.
»Ich habe sie vom Liebesfest im
Hamblin mitgehen lassen«, sagte er mit einem Lachen und schob die Brote zu ihr
hinüber. Sie lachte auch, nahm eines und begann zu essen.
»Hast du keinen Tee gemacht?«
»Nein«, sagte sie. »Ich vergaß ...«
»Na schön – jetzt ist es zu spät,
Wasser heiß zu machen.« Er sagte nichts mehr; sie saßen einander gegenüber
und verzehrten schweigend die Brote. In dem kleinen Zimmer war es dunkel geworden,
und Harneys Gesicht war für Charity nur noch ein undeutlicher Fleck. Plötzlich
beugte er sich über den Tisch und legte seine Hand auf ihre.
»Ich werde eine Zeitlang weggehen
müssen – ein, zwei Monate vielleicht, um ein paar Dinge zu regeln; aber dann
komme ich wieder zurück ... und wir heiraten.«
Seine Stimme klang wie die eines
Fremden: nichts war mehr da von dem Ton, den Charity kannte. Ihre Hand lag
schlaff unter seiner, und sie ließ sie dort, hob den Kopf und versuchte zu
antworten. Doch die Worte erstarben ihr in der Kehle. Reglos saßen beide da, in
dieser
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