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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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Royalls Füße.

14
    Die Heimatwoche von North Dormer schloß selbstverständlich
die zur Gemeinde gehörigen Dörfer mit ein, und die Festlichkeiten sollten sich
über alle Ortschaften verteilen, angefangen von Dormer und den beiden Creston
bis hin zu Hamblin, dem einsamen Weiler am Nordhang des Berges, wo stets der
erste Schnee fiel. Am dritten Tag gab es in Creston und Creston River
Ansprachen und feierliche Darbietungen; am vierten sollten die wichtigsten
Ausführenden in Wagen nach Dormer und Hamblin gebracht werden.
    Es war am vierten Tag, als Charity
zum erstenmal wieder in das kleine Haus zurückkehrte. Sie hatte Harney nicht
mehr allein gesehen, seit sie sich in der Nacht vor Beginn der Festlichkeiten
am Waldrand getrennt hatten. In der Zwischenzeit war sie vielen Stimmungen
ausgesetzt gewesen, aber für den Augenblick war das Entsetzen, das sie im
Rathaus ergriffen hatte, an den äußersten Rand ihres Bewußtseins
zurückgewichen. Sie war ohnmächtig geworden, weil es im Saal so drückend heiß
gewesen war und weil die Redner kein Ende gefunden hatten ... Auch andere
Leute hatten unter der Hitze zu leiden, und den Saal verlassen müssen, bevor die Darbietungen zu Ende waren. Den
ganzen Nachmittag hatte man es donnern hören, und alle sagten hinterher, daß
man hätte etwas unternehmen müssen, um den Saal zu belüften ...
    Beim Ball an jenem Abend – zu dem
sie widerstrebend gegangen war und nur, weil sie Angst hatte fernzubleiben,
war sie sofort wieder beruhigt gewesen. Schon beim Eintreten hatte sie gesehen,
daß Harney auf sie wartete, und er war mit freundlichen, fröhlichen Augen auf
sie zugegangen und hatte sie zu einem Walzer entführt. Sie spürte die Musik in
den Füßen, und obwohl sie nur mit den Burschen aus dem Dorf geübt hatte, fiel
es ihr nicht schwer, ihre Schritte seinen anzupassen. Während sie über das
Parkett kreisten, fielen alle unsinnigen Ängste von ihr ab, und sie vergaß
sogar, daß sie vermutlich in Annabel Balchs Schuhen tanzte.
    Als der Walzer vorüber war, verließ
Harney sie mit einem letzten Händedruck, um Miss Hatchard und Miss Balch zu
begrüßen, die gerade eintraten. Einen Augenblick lang empfand Charity Angst,
als Miss Balch erschien, doch sie verging wieder. Das triumphierende Wissen,
daß sie schöner war und Harney sich dessen bewußt, wischte ihre Befürchtungen
beiseite. Miss Balch wirkte in ihrem unvorteilhaften Kleid abgehärmt und
farblos, und Charity meinte, in ihren von blassen Wimpern umrandeten Augen
einen besorgten Ausdruck zu entdecken. Miss Balch nahm neben Miss Hatchard
Platz, und es wurde bald deutlich, daß sie nicht zu tanzen vorhatte. Charity
tanzte auch nicht oft. Harney erklärte ihr, Miss Hatchard habe ihn gebeten,
jedes der Mädchen einmal aufzufordern; aber er fragte Charity jedesmal förmlich
um Erlaubnis, bevor er eine auf die Tanzfläche führte, und das vermittelte ihr
ein noch weit stärkeres Gefühl geheimen Triumphes, als wenn sie mit ihm im Saal
herumwirbelte.
    An all das dachte sie, während sie
in dem verlassenen Haus auf ihn wartete. Es war ein schwüler Spätnachmittag,
und sie hatte ihren Hut beiseite geworfen und sich der Länge nach auf der
mexikanischen Decke ausgestreckt, denn im Haus war es kühler als unter den
Bäumen. Sie lag da, die Arme unter dem Kopf verschränkt, und blickte hinaus
auf die schartige Flanke des Berges. Der Himmel dahinter war vom zersplitterten
Strahlenglanz der untergehenden Sonne erfüllt, und Charity erwartete in Kürze
Harneys Fahrradklingel vom Weg her zu hören. Er war mit dem Fahrrad nach
Hamblin geradelt, anstatt mit seiner Cousine und ihren Freunden im Wagen zu
fahren, damit er früher entwischen und auf dem Heimweg bei dem verlassenen
Haus haltmachen konnte, das auf der Straße nach Hamblin lag. Sie hatten
zusammen gelächelt bei der komischen Vorstellung, daß sie die überfüllten Wagen
auf dem Rückweg würden vorbeirattern hören, während sie dicht beieinander in
ihrem Versteck oberhalb der Straße lägen. Derlei kindliche Triumphe gaben ihr
immer noch ein Gefühl unbekümmerter Sicherheit. Dennoch hatte sie nicht ganz
die Angstvisionen aus dem Rathaus vergessen. Das Gefühl, daß all dies von
Dauer sei, hatte sie verloren, und jeder Augenblick mit Harney würde nun von
Zweifeln umzingelt sein.
    Der Berg wurde purpurrot vor dem
feurigen Sonnenuntergang, von dem er durch einen schmalen Saum bebenden
Lichts getrennt schien, und über dieser Flammenwand war der ganze Himmel von
einem reinen

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