Edith Wharton
Harneys Frau, nun, da sie die Mutter seines Kindes war; und verglichen mit
ihrem unumschränkten Recht schien Annabel Balchs Anspruch nur ein
sentimentaler Mädchentraum zu sein.
An diesem Abend traf sie am Tor des roten Hauses
Ally, die in der Dämmerung auf sie wartete. »Ich war im Postamt, kurz bevor sie
zumachten, und Will Targatt sagte, es wär' ein Brief für dich da, also hab' ich
ihn mitgebracht.«
Ally streckte Charity den Brief
entgegen und sah sie mit durchdringendem Mitgefühl an. Seit der Szene mit der
zerrissenen Bluse lag in den Blicken, die sie auf ihre Freundin richtete, eine
neue, angstvolle Bewunderung.
Charity
entriß ihr lachend den Brief. »Oh, danke – gute Nacht«, rief sie ihr über die
Schulter zu, während sie den Gartenweg entlanglief. Wäre sie einen Augenblick
länger geblieben, so wäre sie Ally nicht mehr losgeworden, das wußte sie.
Sie eilte nach oben und tastete sich
den Weg in ihr dunkles Zimmer. Ihre Hände zitterten, als sie nach den
Streichhölzern suchte und die Kerze anzündete, und der Briefumschlag war so
fest zugeklebt, daß sie die Schere suchen mußte, um ihn aufzuschlitzen. Schließlich
las sie:
Liebe Charity!
Ich habe Deinen Brief bekommen, und
er berührt mich mehr, als ich sagen kann. Willst Du Dich nicht Deinerseits
darauf verlassen, daß ich mein Bestes tue? Es gibt Dinge, die schwer zu
erklären, viel weniger noch zu rechtfertigen sind; aber Deine Großmut macht
alles leichter. Alles, was ich im Augenblick tun kann, ist, Dir aus tiefster
Seele für Dein Verständnis zu danken. DaJ Du mir schriebst, Du wollest, daß ich
recht handle, hat mir unaussprechlich geholfen. Wenn je die Hoffnung besteht,
daß wir verwirklichen können, wovon wir geträumt haben, werde ich sofort bei
Dir sein; und noch habe ich diese Hoffnung nicht verloren.
Sie las den Brief in einem Zug, dann wieder und
wieder, jedesmal langsamer und genauer. Er war so schön formuliert, daß er für
sie beinahe so schwer zu verstehen war, wie damals die Erklärungen zu den
Bibelbildern in Nettleton; aber allmählich wurde ihr bewußt, daß der Kern
seiner Bedeutung in den letzten paar Worten lag. »Wenn je die Hoffnung besteht,
daß wir verwirklichen können, wovon wir geträumt haben ...«
Aber dann war er dessen nicht einmal
sicher? Sie begriff jetzt, daß jedes Wort und jede zurückhaltende Formulierung ein Eingeständnis von
Annabel Balchs älteren Rechten war. Es stimmte also, daß er mit ihr verlobt
war und daß er noch keinen Weg gefunden hatte, das Verlöbnis zu lösen.
Während sie den Brief noch einmal
las, begriff sie, was es Harney gekostet haben mußte, ihn zu schreiben. Er
versuchte nicht, einer lästigen Forderung zu entgehen; er war aufrichtig und
reumütig hin und her gerissen zwischen zwei Pflichten, die einander ausschlossen.
Sie machte ihm nicht einmal in Gedanken Vorwürfe dafür, daß er ihr verschwiegen
hatte, daß er nicht mehr frei war: sie konnte an seinem Verhalten nichts
Tadelnswerteres sehen als an ihrem. Von Anfang an hatte sie ihn mehr gebraucht,
als er sie gewollt hatte, und die Macht, die sie zusammenführte, war so unwiderstehlich
gewesen wie ein gewaltiger Sturm, der die Blätter von den Bäumen reißt ... Nur
stand zwischen ihnen, fest und aufrecht in dem allgemeinen Aufruhr, die
unzerstörbare Gestalt Annabel Balchs ...
Sie saß da und starrte auf den
Brief, Aug in Auge mit seinem Eingeständnis. Ein kalter Schauder überlief sie,
und heftige Schluchzer drangen in ihre Kehle und schüttelten sie von Kopf bis
Fuß. Eine Weile wurde sie von den hohen Wogen ihrer Seelenqual ergriffen und
gebeutelt, bis sie an fast nichts mehr denken konnte als an den blinden Kampf
gegen diese Attacken. Dann begann sie allmählich noch einmal jede einzelne
Phase ihrer armseligen Romanze mit schrecklicher Deutlichkeit zu durchleben.
Sie erinnerte sich an törichte Dinge, die sie gesagt hatte, an fröhliche
Antworten, die Harney gegeben hatte, an seinen ersten Kuß in der Dunkelheit
während des Feuerwerks, daran, wie sie gemeinsam die blaue Brosche ausgesucht
hatten, an die Art, wie er sie wegen der Briefe geneckt hatte, die sie auf der
Flucht vor dem Wanderprediger verloren hatte. All diese Erinnerungen und
tausend andere summten ihr durch den Kopf, bis Harney so greifbar nahe schien,
daß sie seine Finger in ihrem Haar und seinen warmen Atem auf ihrer Wange
spürte, während er ihr den Kopf wie einer Blume nach hinten bog. Diese Dinge
gehörten ihr, sie waren in ihr Blut
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