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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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gebracht? Sie
hatten sich von dem Tag an gehaßt, als der Pfarrer ihnen den Segen gab; und
immer wenn es der alten Mrs. Skeff in den Sinn kam, ihre Schwiegertochter zu
demütigen, brauchte sie nur zu sagen: »Wer würde meinen, daß das Baby erst zwei
Jahre alt ist? Und nur ein Siebenmonatskind – ist es nicht ein Wunder, wie groß
es schon ist?« In North Dormer geizte man nicht mit Nachsicht für die, die bei
einem Feuer Brandwunden davongetragen hatten, aber man hatte lediglich Spott
übrig für jene, die gerade noch davor bewahrt werden konnten; und Charity hatte
immer verstanden, warum Julia Hawes nicht hatte bewahrt werden wollen ...
    Nur – gab es denn keine andere Wahl
als Julias? Sie schauderte zurück vor dem Bild dieser weißgesichtigen Frau
zwischen den Plüschsofas und Goldrahmen. Innerhalb der festgefügten Ordnung
der Dinge, wie sie sie kannte, sah sie keinen Platz für ihr persönliches
Schicksal ...
    Angekleidet blieb sie auf dem Stuhl
sitzen, bis schwache graue Streifen sich allmählich zwischen die schwarzen
Latten der Fensterläden schoben. Da stand sie auf, stieß sie auf und ließ das
Licht herein. Die Ankunft eines neuen Tages brachte ein klareres Bewußtsein
unab wendbarer Wirklichkeit mit sich, und zugleich ein Gefühl der
Notwendigkeit, zu handeln. Sie betrachtete sich im Spiegel und sah ihr Gesicht:
weiß in der herbstlichen Morgendämmerung, eingefallene Wangen, dunkle Ringe
unter den Augen und all die Anzeichen ihres Zustands, die ihr nie aufgefallen
wären, über die Dr. Merkles Diagnose ihr aber die Augen geöffnet hatte. Sie
konnte nicht hoffen, daß diese Zeichen dem aufmerksamen Dorf entgingen; noch
bevor ihre Figur die Form verlöre, das wußte sie, würde ihr Gesicht sie
verraten.
    Sie lehnte sich aus dem Fenster und
blickte auf die dunkle, menschenleere Szenerie; die aschfarbenen Häuser mit den
geschlossenen Fensterläden, die graue Straße, die sich den Hang hinaufwand bis
zu dem Streifen aus Schierlingstannen oberhalb des Friedhofs, und die schwere
Masse des Berges, schwarz vor dem regenverhangenen Himmel. Im Osten breitete
sich ein heller Fleck über dem Wald aus; aber auch dort hingen Wolken. Langsam
wanderte ihr Blick über die Felder zu der gezackten Kurve der Hügel. So oft
hatte sie auf dieses leblose Rund geblickt und sich gefragt, ob jemals irgend
etwas einem zustoßen könne, der darin eingeschlossen war.
    Fast ohne bewußtes Nachdenken war
ihre Entscheidung gefallen; während ihre Augen dem Kreis der Hügel folgten,
hatten auch ihre Gedanken die alte Runde durcheilt. Es war wohl etwas in ihrem
Blut, das den Berg zur einzigen Antwort auf ihre Fragen werden ließ, zum
unausweichlichen Zufluchtsort vor allem, was sie einengte und bedrängte. Jedenfalls
begann er sich nun in ihr aufzutürmen, so wie er vor der regnerisch-trüben
Morgendämmerung aufragte; und je länger sie zu ihm hinsah, desto klarer wußte
sie, daß sie nun endlich wirklich dorthin gehen würde.

16
    Der Regen blieb aus, und als sie eine Stunde später
aufbrach, wehten grelle Sonnenlichter über die Felder.
    Nach Harneys Abreise hatte sie ihr
Fahrrad wieder seinem Eigentümer in Creston zurückgegeben, und sie war nicht
sicher, ob sie den ganzen Weg bis zum Berg würde zu Fuß gehen können. Das
verlassene Haus lag am Weg; aber die Vorstellung, die Nacht dort zu verbringen,
war unerträglich, und so wollte sie versuchen, bis nach Hamblin zu kommen, wo
sie in einem Holzschuppen schlafen konnte, falls die Kräfte sie verließen.
Ihre Vorbereitungen hatte sie in gelassener Voraussicht getroffen. Vor dem
Aufbruch hatte sie sich gezwungen, ein Glas Milch zu trinken und ein Stück Brot
zu essen; und sie hatte in ihre Segeltuchtasche ein kleines Päckchen von der
Schokolade gesteckt, die Harney immer in seiner Fahrradtasche bei sich hatte.
Sie wollte vor allen Dingen bei Kräften bleiben und ihr Ziel erreichen, ohne
Aufmerksamkeit zu erregen.
    Meile um
Meile ging sie die Straße entlang, auf der sie so oft zu ihrem Liebsten
geflogen war. Als sie an die Biegung kam, wo der Waldweg von der Straße nach
Creston abzweigt, fiel ihr das Evangelistenzelt wieder ein – das längst abgebaut und
anderswo wieder aufgeschlagen war – und wie sie vor Schreck unwillkürlich
zusammengefahren war, als der dicke Prediger gesagt hatte: »Dein Erlöser weiß
alles. Komm und bekenne deine Sünden.« Sie fühlte jetzt keine Schuld mehr, nur
den verzweifelten Wunsch, ihr Geheimnis vor respektlosen Blicken zu verbergen
und ein

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