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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
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neues Leben unter Menschen zu beginnen, denen der strenge Sittenkodex
des Dorfes unbekannt war. Diese Regung wurde nicht zum fest umrissenen
Gedanken: sie wußte nur, sie müsse ihr Kind retten und sich irgendwo mit ihm verstecken,
wo niemand je ihrer beider Ruhe stören würde.
    Sie ging weiter und weiter, und ihre
Füße wurden immer schwerer, je weiter der Tag fortschritt. Ein grausamer
Zufall, so schien es, zwang sie, Schritt für Schritt noch einmal den Weg zu dem
verlassenen Haus zurückzulegen; und als sie den Obstgarten erblickte und das
silbergraue Dach, das schief durch die beladenen Zweige lugte, verließen sie
ihre Kräfte und sie setzte sich an den Straßenrand. Lange saß sie da und versuchte,
den Mut zu finden, weiterzugehen, vorbei an dem klaffenden Tor und den
verwilderten Rosensträuchern, die voller roter Hagebutten hingen. Ein paar Regentropfen
fielen, und sie dachte an die warmen Abende, wenn sie und Harney umschlungen in
dem schattigen Zimmer gesessen hatten und das Rauschen des Sommerregens auf dem
Dach sich mit ihren Küssen vermischt hatte. Schließlich wurde ihr klar, daß,
wenn sie noch länger sitzen bliebe, sie der Regen möglicher weise zwingen
werde, im Haus über Nacht Schutz zu suchen, und sie stand auf und ging weiter
und wandte den Blick ab, als sie an dem weißen Tor und dem verwilderten Garten
vorbeikam.
    Die Stunden zogen sich hin, und sie
ging immer langsamer, blieb hin und wieder stehen, um sich auszuruhen und ein
Stück Brot oder einen Apfel zu essen, den sie am Wegrand gepflückt hatte. Mit
jedem Meter schien ihr Körper schwerer zu werden, und sie fragte sich, wie sie
ihr Kind später würde tragen können, wenn es jetzt schon eine solche Bürde
war ... Ein frischer Wind war aufgekommen, der scharf vom Berg herabblies und
die Regenwolken auseinandertrieb. Plötzlich senkten sich die Wolken wieder, und
ein paar weiße Pfeile trafen sie ins Gesicht: der erste Schnee, der auf Hamblin
fiel. Die Dächer des einsamen Dorfs waren nur noch eine halbe Meile entfernt,
und sie war entschlossen, weiterzugehen und zu versuchen, noch in derselben
Nacht auf den Berg zu gelangen. Sie hatte keinen genauen Plan, wie sie
vorgehen wollte, sie wußte nur, wenn sie in der Siedlung angekommen war, wollte
sie nach Liff Hyatt suchen und ihn darum bitten, sie zu ihrer Mutter zu
bringen. Sie selbst war so geboren worden, wie nun ihr Kind geboren würde; und
wie immer das weitere Leben ihrer Mutter gewesen sein mochte, sie mußte sich
doch an Vergangenes erinnern und eine Tochter aufnehmen, der die Not
bevorstand, die sie einst erfahren hatte.
    Plötzlich überfiel sie wieder diese
tödliche Schwäche, und sie setzte sich an die Böschung und lehnte den Kopf gegen einen Baumstamm. Die
lange Straße und die wolkenverhangene Landschaft verschwammen vor ihren Augen,
und eine Zeitlang schien es ihr, als wirbele sie in einer schrecklichen, sich
drehenden Finsternis umher. Dann schwand auch das.
    Sie öffnete die Augen und erblickte
einen Einspänner, der neben ihr angehalten hatte, und einen Mann, der vom
Wagen gesprungen war und sie mit verwunderter Miene betrachtete. Langsam
kehrte das Bewußtsein wieder, und sie sah, daß es Liff Hyatt war.
    Sie war sich undeutlich bewußt, daß
er sie etwas fragte, und sie sah ihn schweigend an und versuchte, Kraft zum
Sprechen zu finden. Schließlich rührte sich die Stimme in der Kehle, und sie
flüsterte: »Ich gehe rauf zum Berg.«
    »Rauf zum Berg?« wiederholte er und
trat ein wenig beiseite; da sah sie hinter ihm im Einspänner eine Gestalt in
einem dicken Mantel, mit einem vertrauten, rosigen Gesicht und einer
goldgefaßten Brille auf der griechischen Nase.
    »Charity! Was in aller Welt machst
du hier?« rief Mr. Miles, warf die Zügel über den Rücken des Pferdes und
kletterte aus dem Wagen.
    Sie hob die schweren Lider und sah
ihn an. »Ich gehe zu meiner Mutter.« Die beiden Männer sahen sich an und
blieben einen Augenblick lang stumm.
    Dann sagte Mr. Miles: »Du siehst
krank aus, meine Liebe, und es ist ein weiter Weg bis dorthin. Meinst du, das
ist vernünftig?
    Charity stand auf. »Ich muß zu ihr.«
    Liff Hyatts Gesicht verzog sich zu
einem undefinierbaren, freudlosen Grinsen, und dann sagte Mr. Miles unsicher:
»Du weißt es also – man hat es dir gesagt?«
    Sie starrte ihn an. »Ich weiß nicht,
was Sie meinen. Ich will zu ihr.«
    Mr. Miles musterte sie nachdenklich.
Sie glaubte zu sehen, wie seine Miene sich veränderte, und das Blut stieg ihr
in die

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