Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
Vom Netzwerk:
Harney. Er war sehr kurz:
    Ich möchte, daß Du Annabel Balch
heiratest, wenn Du es ihr versprochen hast. Ich denke, Du hattest vielleicht
Angst, mir würde das sehr weh tun. Ich denke, mir wäre lieber, Du handelst
recht.
    Deine Dich liebende Charity
    Sie brachte den Brief früh am nächsten Morgen zur
Post, und ein paar Tage lang war ihr seltsam leicht ums Herz. Dann begann sie
sich zu fragen, warum sie keine Antwort erhielt.
    Eines Tages, als sie allein in der
Bibliothek saß und über alles nachgrübelte, begannen die Bücherwände sich um
sie zu drehen, und der Schreibtisch aus Rosenholz schwankte unter ihren
Ellbogen. Der Benommenheit folgte ein Anfall von Übelkeit wie die, die sie bei
den Festlichkeiten im Rathaus überkommen hatte. Aber im Rathaus war es voll und
drückend heiß gewesen, und die Bibliothek war leer und so eisig, daß sie ihre
Jacke anbehalten hatte. Fünf Minuten zuvor hatte sie sich vollkommen wohl
gefühlt; und nun schien ihr, als müsse sie sterben. Das Stück Spitze, an dem
sie noch immer lustlos arbeitete, entglitt ihren Fingern, und die Häkelnadel
fiel klirrend zu Boden. Sie preßte ihre feuchten Hände fest gegen die Schläfen
und lehnte sich an den Schreibtisch, während die Welle der Übelkeit über sie
hinwegging. Allmählich ließ das Unwohlsein nach, und nach ein paar Minuten
stand Charity auf, aufgewühlt und zu Tode erschrocken, tastete nach ihrem Hut
und stolperte hinaus ins Freie. Aber die ganze strahlende Herbstwelt wirbelte
und brauste um sie herum, während sie sich die unendlich lange Straße entlang
nach Hause schleppte.
    Als sie sich dem roten Haus näherte,
sah sie einen Wagen vor der Tür stehen, und ihr Herz machte einen Sprung. Aber
es war nur Mr. Royall, der mit der Reisetasche in der Hand ausstieg. Er sah
sie kommen und wartete. Sie spürte, daß er sie forschend ansah, als sei an
ihrer Erscheinung irgend etwas sonderbar, und sie warf den Kopf zurück,
verzweifelt bemüht, ungezwungen zu wirken. Ihre Blicke trafen sich, und sie
sagte: »Du bist wieder da?«, als sei nichts geschehen, und er antwortete: »Ja,
ich bin wieder da«, betrat vor ihr das Haus und stieß die Tür zu seinem
Arbeitszimmer auf. Sie ging hinauf in ihr Zimmer, und jede Stufe hielt sie
fest, als wären ihre Füße mit Leim bestrichen.
    Zwei Tage später stieg sie in
Nettleton aus dem Zug und trat aus dem Bahnhof auf den staubigen Platz hinaus.
Der kurze Abschnitt kühlen Wetters war vorbei, und es war mild und beinahe so
heiß wie damals, als sie mit Harney am 4. Juli denselben Platz betreten hatte.
Dort standen noch immer dieselben heruntergekommenen Droschken und Einspänner
trostlos in Reih und Glied, und die mageren Pferde mit den Fliegennetzen über
dem Widerrist drehten trübsinnig die Köpfe hin und her. Charity erkannte die
auffälligen Schilder über den Gasthäusern und den Billardsalons wieder und die
langen Drahtleitungen auf den hohen Masten, die die Hauptstraße hinab bis zum
Park am anderen Ende liefen. Sie schlug die Richtung ein, in die die Drähte
wiesen, und lief eilig und mit gesenktem Kopf weiter, bis sie zu einer breiten
Querstraße mit einem Backsteingebäude an einer Ecke kam. Sie überquerte die
Straße und blickte verstohlen an der Fassade des Backsteingebäudes hoch; dann
kehrte sie um und trat durch eine Tür, die zu einer steilen, mit Messingleisten
eingefaßten Treppe führte. Auf dem zweiten Treppenabsatz klingelte sie, und
eine Mulattin mit dichtem Haar und einer Rüschenschürze führte sie in eine
Diele, wo ein ausgestopfter Fuchs auf seinen Hinterbeinen stand und den
Besuchern ein Messingtablett für die Visitenkarten entgegenstreckte. Nachdem
Charity ein paar Minuten in einem hübsch möblierten Zimmer mit Plüschsofas gewartet
hatte, über denen große goldgerahmte Photographien von aufgeputzten jungen
Frauen hingen, wurde sie in die Praxis geführt ...
    Dr. Merkle kam hinter ihr durch die Glastür und führte
sie in ein anderes, kleines Zimmer, das noch mehr mit Plüschmöbeln und
Goldrahmen überfüllt war. Dr. Merkle war eine dralle Frau mit kleinen
glänzenden Augen, einer ungeheuren Masse schwarzem Haar, das ihr tief in die
Stirn fiel, und unnatürlich weißen, ebenmäßigen Zähnen. Sie trug ein kostbares
schwarzes Kleid, und auf ihrem Busen hingen Goldketten und Amulette. Ihre Hände
waren groß und weich und flink in allen ihren Bewegungen; und sie roch nach
Moschus und Karbolsäure.
    Sie lächelte Charity mit allen ihren
untadeligen Zähnen an.

Weitere Kostenlose Bücher