Edith Wharton
»Setzen Sie sich, meine Liebe. Möchten Sie ein
Schlückchen von irgendwas, damit Sie wieder munter werden ...? Nein ...? Na,
dann legen Sie sich einfach mal einen Moment hin ... Jetzt läßt sich noch
nichts machen; aber wenn Sie etwa in einem Monat wieder vorbeikommen wollen ...
Ich könnte Sie für zwei oder drei Tage sogar bei mir zu Hause unterbringen, und
es gäbe kein bißchen Ärger. Du lieber Himmel! Das nächste Mal wissen Sie, daß
Sie sich nicht so aufzuregen brauchen ...«
Charity sah
sie an, und ihre Augen wurden immer größer. Diese Frau mit den falschen Haaren,
den falschen Zähnen, dem falschen, mörderischen Lächeln – was bot sie ihr
anderes an als Straffreiheit für ein unvorstellbares Verbrechen? Bis jetzt
hatte Charity nur einen unbestimmten Ekel vor sich selbst und eine beängstigende
körperliche Erschöpfung gespürt; nun wurde sie mit einem Mal von der
schwerwiegenden Tatsache überrascht, daß sie Mutter wurde. Sie
hatte sich an diesen schrecklichen Ort begeben, weil sie keinen anderen Weg
wußte, sich Klarheit darüber zu verschaffen, daß sie sich über ihren Zustand
nicht geirrt hatte; und diese Frau hatte sie für eine so erbärmliche Kreatur
wie Julia gehalten ... Der Gedanke war so entsetzlich, daß sie aufsprang,
bleich und zitternd, und einer ihrer heftigen Zornausbrüche sie überfiel.
Dr. Merkle, die immer noch lächelte,
erhob sich ebenfalls.
»Warum laufen Sie so schnell weg?
Sie können sich gleich hier auf mein Sofa legen ...« Sie hielt inne, und ihr
Lächeln wurde mütterlicher. »Später – falls es zu Hause irgendwelches Gerede
gegeben haben sollte und Sie für eine Weile verschwinden wollen ... Ich habe
eine Freundin in Boston, die eine Gesellschafterin sucht ... Sie wären genau die
Richtige für sie, meine Liebe ...«
Charity war schon an der Tür. »Ich
möchte nicht bleiben. Ich möchte nicht wiederkommen«, stammelte sie, die Hand
auf dem Türgriff; doch mit einer raschen Bewegung drängte Dr. Merkle sie von
der Tür weg.
»Na, sehr schön. Fünf Dollar bitte.«
Hilflos blickte Charity auf die
zusammengekniffenen Lippen und in das strenge Gesicht der Ärztin. Mit ihren
letzten Ersparnissen hatte sie Ally die Kosten für Miss Balchs zerrissene Bluse
ersetzt, und vier Dollar hatte sie sich von ihrer Freundin leihen müssen, um
die Fahrkarte und die Arztkosten bezahlen zu können. Ihr wäre nie der Gedanke
gekommen, daß eine ärztliche Beratung mehr als zwei Dollar kosten
könnte. »Ich hab' nicht gewußt ... Ich hab' nicht soviel ...«, stammelte sie
und brach in Tränen aus.
Dr. Merkle stieß ein kurzes Lachen
aus, das ihre Zähne nicht entblößte, und erkundigte sich trocken, ob Charity
glaube, sie führe ihre Praxis zum Vergnügen. Während sie sprach, lehnte sie
ihre massigen Schultern gegen die Tür wie eine unerbittliche Gefängniswärterin,
die mit ihrer Gefangenen verhandelt.
»Sie sagen, Sie kommen vorbei und
bezahlen später? Auch das hab' ich schon reichlich oft gehört. Geben Sie mir Ihre
Adresse, und wenn Sie nicht bezahlen können, schicke ich die Rechnung an Ihre
Familie ... Was? Ich verstehe nicht, was Sie sagen ... Das paßt Ihnen auch nicht? Meine Güte, für ein Mädchen,
das für seine Rechnungen nicht aufkommen kann, sind Sie ganz schön eigen ...«
Sie hielt inne und richtete den Blick auf die Brosche mit dem blauen Stein, die
Charity sich an die Bluse gesteckt hatte.
»Schämen Sie sich nicht, so mit
einer Dame zu reden, die sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muß, wenn Sie
mit solchem Schmuck herumziehen ...? Es ist zwar sonst nicht meine Art, und ich
tu's nur Ihnen zu Gefallen ... aber wenn Sie die Brosche als Pfand dalassen wollen, sag' ich nicht nein ... Ja, natürlich können Sie sie zurückbekommen, wenn Sie mir mein Geld bringen ...«
Auf der Heimfahrt empfand Charity eine große, unerwartete
Ruhe. Es war schrecklich gewesen, Harneys Geschenk in den Händen dieser Frau
zurücklassen zu müssen, aber selbst um diesen Preis war die Nachricht, die sie
von dort mitnahm, nicht zu teuer erkauft. Sie hatte die Augen halb geschlossen,
während der Zug durch die vertraute Landschaft brauste; und nun schienen die
Erinnerungen an die vorige Reise nicht mehr wie dürre Blätter vor ihr
herzuflattern, sondern wie schlafendes Korn in ihrem Blut zu reifen. Nie wieder
würde sie wissen, wie es war, sich allein zu fühlen. Alles schien mit einemmal
klar und einfach zu sein. Es fiel ihr nicht mehr schwer, sich vorzustellen, sie
sei
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