Edith Wharton
übergegangen und ein Teil von ihr geworden,
sie schufen das Kind in ihrem Schoß; es war unmöglich, derart miteinander verflochtene
Lebensfäden auseinanderzureißen.
Diese Überzeugung verlieh ihr
allmählich Kraft, und sie begann, in Gedanken die ersten Worte des Briefs zu
formulieren, den sie an Harney schreiben wollte. Sie wollte ihm sofort
schreiben, und mit fieberhaften Händen begann sie, in ihrer Schublade nach
einem Blatt Papier zu kramen. Aber es war keines mehr da; sie mußte
hinuntergehen und sich eines holen. Sie hatte das abergläubische Gefühl, daß
der Brief augenblicklich geschrieben werden müsse, daß sie Gewißheit und Ruhe
finden werde, wenn sie ihr Geheimnis in Worte faßte; und sie nahm die Kerze und
ging hinunter in Mr. Royalls Arbeitszimmer.
Es war unwahrscheinlich, daß sie ihn
zu dieser Stunde dort antreffen würde; vermutlich hatte er zu Abend gegessen
und war dann zu Carrick Fry hinübergegangen. Sie machte die Tür zu dem
unbeleuchteten Zimmer auf, und das Licht ihrer
Kerze fiel auf ihn, wie er im Dunkeln in seinem Stuhl mit der hohen Lehne saß.
Seine Arme lagen auf den Seitenlehnen, und sein Kopf war ein wenig geneigt;
doch er hob ihn rasch, als Charity eintrat. Als ihre Blicke sich trafen,
schrak sie zurück bei dem Gedanken, daß ihre Augen rot vom Weinen seien und
ihr Gesicht blaß von der Anstrengung und Aufregung ihrer Reise. Aber es war zu
spät, um zu fliehen, und sie blieb stehen und sah ihn schweigend an.
Er hatte sich von seinem Stuhl
erhoben und kam mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Die Geste war so unerwartet,
daß sie ihn ihre Hände in seine nehmen ließ, und so standen sie da, ohne zu
sprechen, bis Mr. Royall feierlich sagte: »Charity – hast du mich gesucht?«
Brüsk riß sie sich los und wich
zurück. »Ich? Nein ...« Sie stellte die Kerze auf seinen Schreibtisch. »Ich
brauchte etwas Briefpapier, das ist alles.«
Sein Gesicht verdüsterte sich, und die
buschigen Brauen sprangen über seine Augen vor. Ohne zu antworten öffnete er
die Schreibtischschublade, nahm ein Blatt Papier und einen Umschlag heraus und
schob sie ihr hinüber. »Brauchst du auch eine Briefmarke?« fragte er.
Sie nickte, und er gab ihr die
Briefmarke. Sie spürte, wie er sie währenddessen aufmerksam betrachtete, und
sie wußte, daß das Kerzenlicht, das von unten in ihr weißes Gesicht flackerte,
sicher ihre verschwollenen Züge entstellte und die dunklen Ringe um ihre Augen
verstärkte. Sie riß den Briefbogen an sich, denn ihre wiedergewonnene
Sicherheit verflüchtigte sich unter seinem erbarmungslosen Blick, in dem sie
die bittere Erkenntnis ihres Zustands und die spöttische Erinnerung an jenen
Tag zu lesen meinte, da er ihr in ebendiesem Zimmer angeboten hatte, Harney
zur Heirat zu zwingen. Sein Blick schien zu sagen, er wisse, daß sie das
Briefpapier hole, um ihrem Geliebten zu schreiben, der sie verlassen hatte, so
wie er es ihr vorausgesagt hatte. Sie erinnerte sich, wie verachtungsvoll sie
sich damals von ihm abgewandt hatte, und wußte, was für eine lange Liste alter
Rechnungen beglichen würde, falls er die Wahrheit ahnte. Sie drehte sich um und
floh nach oben; aber als sie in ihrem Zimmer angelangt war, waren alle Worte,
die auf sie gewartet hatten, fort ...
Wenn sie zu Harney hätte gehen
können, wäre es anders gewesen; sie hätte nur zu erscheinen brauchen, damit
seine Erinnerungen zu ihren Gunsten sprachen. Aber sie hatte kein Geld mehr,
und es gab niemanden, von dem sie genug für eine solche Reise hätte leihen
können. Es blieb ihr nichts, als zu schreiben und seine Antwort abzuwarten.
Lange Zeit saß sie über das leere Blatt gebeugt; aber sie fand keine Worte, die
wirklich ausdrückten, was sie empfand.
Harney hatte geschrieben, daß sie es
ihm leichter gemacht habe, und sie war froh, daß es so war; sie wollte ihm
nichts schwermachen. Sie wußte, daß es in ihrer Macht stand, es zu tun; sein
Schicksal lag in ihren Händen. Sie brauchte ihm nur die Wahrheit zu sagen;
aber eben das hielt sie zurück ... Der kurze Moment Auge in Auge mit Mr. Royall
hatte sie ihrer letzten Illusion beraubt und ihr wieder die Einstellung von
North Dormer zu Bewußtsein gebracht. Deutlich
und gnadenlos stand ihr das Schicksal jener Mädchen vor Augen, die verheiratet
wurden, »damit alles seine Richtigkeit hatte«. Zu viele dörfliche
Liebesgeschichten hatte sie so enden sehen. Die trostlose Ehe der armen Rose
Cole war so ein Fall; und was hatte es ihr oder Halston Skeff
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