Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sommer
Vom Netzwerk:
nicht
verhindern.«
    »Das stimmt ... Ich weiß nur, daß ich
sie am Abend des Festes hab' weinen sehen, weil ihr Kleid nicht richtig saß.
Deshalb hat sie auch nicht tanzen wollen ...«
    Charity blickte zerstreut auf die
Spitzenbluse auf Allys Knien. Plötzlich bückte sie sich und riß die Bluse an
sich.
    »Na, in der wird sie auch nicht tanzen«,
sagte sie mit plötzlicher Heftigkeit; sie packte die Bluse mit ihren kräftigen
jungen Händen, riß sie entzwei und schleuderte die Fetzen auf den Boden.
    »0 Charity ...«, schrie Ally und
sprang auf. Lange Zeit starrten sich die beiden Mädchen über das zerrissene
Kleidungsstück hinweg an. Dann brach Ally in Tränen aus.
    »Oh, was soll ich ihr bloß sagen?
Was soll ich tun? Es war echte Spitze!« jammerte sie zwischen ihren piepsigen
Schluchzern.
    Charity blickte sie ungerührt an.
»Du hättest sie eben nicht herbringen sollen«, sagte sie mit fliegendem Atem.
»Ich hasse andrer Leute Kleider – es ist grad so, als wären sie selber da.«
Nach diesem Bekenntnis starrten sich die beiden erneut an, bis Charity in
einem gequälten Aufschrei hervorstieß: »Oh, geh, geh, geh, sonst hasse ich
dich auch ...« Als Ally gegangen war, fiel sie schluchzend auf das Bett.
    Dem langen Sturm folgte ein steifer Nordwestwind, und als
der vorbei war, bekamen die Hügel die ersten braunen Farbtöne, das Blau des
Himmels wurde noch tiefer, und die großen weißen Wolken lagerten wie
Schneewächten vor den Hügeln. Die ersten dürren Ahornblätter begannen über Miss
Hatchards Rasen zu wirbeln, und der wilde Wein ergoß sich scharlachfarben über
den weißen Vorbau der Gedächtnisbibliothek. Es war ein goldener, triumphaler
September. Tag für Tag breitete sich die Flamme des wilden Weins in immer
weiteren karmin- und purpurroten Wogen bis zu den Hügeln aus, die Lärchen
glühten wie der schmale gelbe Lichtschein um ein Feuer, die Ahornbäume loderten
und schwelten, und die schwarzen Schierlingstannen wirkten blau vor dem
leuchtenden Hintergrund des Waldes.
    Die Nächte waren kalt, und kalt
glitzerten die Sterne so hoch oben, daß sie kleiner und heller erschienen. Manchmal,
wenn Charity die langen Stunden schlaflos auf ihrem Bett lag, hatte sie das
Gefühl, sie sei eins mit diesen kreisenden Lichtern und drehe sich mit ihnen um
das große schwarze Gewölbe. Nachts machte sie viele Pläne ... das war auch die
Zeit, da sie an Harney schrieb. Aber die Briefe wurden nie zu Papier gebracht,
denn sie wußte nicht, wie sie ausdrücken sollte, was sie ihm sagen wollte. Also
wartete sie. Seit ihrem Gespräch mit Ally war sie überzeugt, daß Harney mit Annabel
Balch verlobt sei und daß zu dem Vorhaben »alles zu regeln« gehörte, diese
Bindung zu lösen. Nachdem der erste Taumel von Eifersucht vorbei war, empfand
sie in dieser Hinsicht keine Furcht. Sie war sich immer noch sicher, daß Harney
zurückkommen werde, und ebenso sicher war sie, zumindest für den Augenblick,
daß sie es sei, die er liebe, und nicht Miss Balch. Und doch blieb das Mädchen
um nichts weniger eine Rivalin, da sie all die Dinge verkörperte, die zu
verstehen oder zu erreichen Charity sich völlig außerstande sah. Annabel Balch
war, wenn nicht das Mädchen, das Harney heiraten sollte, zumindest die Sorte
Mädchen, die er normalerweise heiraten würde. Charity hatte sich nie als
Harneys Frau vorstellen können; hatte nie den Tagtraum festgehalten und ihn
sich in seinen alltäglichen Konsequenzen ausmalen können; aber Annabel Balch
konnte sie sich ganz und gar in dieser Rolle vorstellen.
    Je mehr sie an diese Dinge dachte,
desto schwerer lastete das Gefühl auf ihr, daß alles längst entschieden sei:
sie fühlte, wie sinnlos es sei, gegen die Verhältnisse anzukämpfen.
Sie hatte es nie verstanden, sich anzupassen; sie konnte nur zerbrechen,
zerreißen und zugrunde richten. Die Szene mit Ally hatte sie mit tiefer Scham
erfüllt über ihre kindische Zerstörungswut. Was würde Harney gedacht haben,
wenn er das gesehen hätte? Aber jedesmal, wenn sie über diesen Vorfall in ihren
verstörten Gedanken nachsann, konnte sie sich nicht vorstellen, was ein
zivilisierter Mensch in ihrer Lage getan hätte. Sie fühlte sich gegen
unbekannte Mächte allzu unvollkommen ausgerüstet ...
    Schließlich trieb sie dieses Gefühl
zu plötzlicher Tat. Eines Abends holte sie sich ein Blatt Papier aus Mr.
Royalls Arbeitszimmer, setzte sich, nachdem Verena zu Bett gegangen war, vor
die Küchenlampe und begann ihren ersten Brief an

Weitere Kostenlose Bücher