Edith Wharton
ausgestreckt, ein Bein angewinkelt unter
dem zerrissenen Rock, so daß das andere bis zum Knie entblößt war: ein
geschwollen-glitzerndes Bein mit einem zerlumpten Strumpf, der zum Knöchel
heruntergerutscht war. Die Frau lag auf dem Rücken und ihre Augen starrten
unverwandt zu der Kerze hoch, die in Mr. Miles' Hand zitterte.
»Grad eben ist sie hinüber«, sagte
eine Frau über die Schultern der andern hinweg; und der junge Mann fügte hinzu:
»Ich bin grad reingekommen und hab' sie gefunden.«
Ein älterer Mann mit glattem Haar
und einem schwachen Grinsen drängte sich zwischen sie. »Es war so: erst
gestern abend hab' ich zu ihr gesagt: wenn du damit nicht aufhörst, sag' ich zu
ihr ...«
Jemand zog ihn weg und stieß ihn zu
einer Bank an der Wand, wo er taumelnd niedersank und seine von allen
unbeachtete Geschichte vor sich hinmurmelte.
Es entstand eine Pause; dann löste
sich plötzlich die junge Frau, die am Tisch gelümmelt hatte, aus der Gruppe und
stellte sich vor Charity hin. Sie wirkte gesünder und kräftiger als die
anderen, und ihre sonnengebräunten Züge besaßen eine gewisse düstere Schönheit.
»Wer ist das Mädchen? Wer hat sie
hergebracht?« fragte sie und richtete den Blick mißtrauisch auf den jungen
Mann, der sie gerüffelt hatte, weil sie keine Kerze bereithielt.
Mr. Miles ergriff das Wort. »Ich
habe sie hergebracht; sie ist Mary Hyatts Tochter.«
»Was? Die auch?« höhnte das Mädchen;
und der junge Mann drehte sich mit einem Fluch zu ihr um. »Halt's Maul, du
Miststück, oder mach, daß du rauskommst«, sagte er; dann fiel er wieder in
seine Apathie zurück, ließ sich auf die Bank sinken und lehnte den Kopf gegen
die Wand.
Mr. Miles hatte die Kerze auf den
Boden gestellt und seinen schweren Mantel ausgezogen. Er wandte sich an
Charity. »Komm und hilf mir«, sagte er.
Er kniete sich neben die Matratze
und schloß die Lider über den Augen der Toten. Charity kniete zitternd und mit
einem Brechreiz kämpfend neben ihm und versuchte, den Leichnam ihrer Mutter
ordentlich hinzulegen. Sie zog den Strumpf über das schrecklich schwärende
Bein und den Rock bis zu den abgetretenen, nach oben gebogenen Stiefeln
herunter. Dabei betrachtete sie das magere, aber aufgedunsene Gesicht ihrer Mutter,
deren Lippen in einem erstarrten Seufzer über den verfaulten Zähnen geöffnet
waren. Kein Zeichen von irgend etwas Menschlichem war darin: sie lag da wie
ein toter Hund in einem Graben. Charitys Hände wurden kalt, als sie sie
berührte.
Mr. Miles zog der Frau die Arme über
die Brust und deckte sie mit seinem Mantel zu. Dann bedeckte er ihr das Gesicht
mit seinem Taschentuch und stellte die Flasche mit der Kerze ihr zu Häupten
auf. Dann erhob er sich.
»Ist kein Sarg da?« fragte er, indem
er sich der Gruppe in seinem Rücken zuwandte.
Einen Augenblick herrschte
verlegenes Schweigen; dann ergriff das aufbrausende junge Mädchen das Wort: »Sie hätten einen mitbringen sollen. Wo sollen
wir hier einen herkriegen, das möcht' ich mal wissen?« Mr. Miles sah die
anderen an und wiederholte: »Habt ihr wirklich keinen Sarg da?«
»Das sag' ich ja: der wo einen hat,
schläft besser«, murmelte eine alte Frau. »Aber schließlich hat sie noch nicht
mal ein Bett gehabt ...«
»Und der Ofen hat ihr auch nicht
gehört«, sagte der Mann mit dem glatten Haar trotzig.
Mr. Miles wandte sich von ihnen ab
und trat ein paar Schritte beiseite. Er hatte ein Buch aus der Tasche gezogen, und
nach einer kurzen Pause öffnete er es und begann daraus vorzulesen, wobei er es
von sich weg schräg nach unten hielt, so daß der schwache Lichtschein auf die Seiten fiel. Charity
kniete immer noch neben der Matratze: nun, da das
Gesicht ihrer Mutter zugedeckt war, fiel es ihr leichter, in ihrer Nähe zu bleiben und den Anblick der lebenden
Gesichter zu meiden, die nur zu schrecklich zeigten, über welche Stadien das
Gesicht ihrer Mutter in den Tod gesunken war.
»Ich bin die Auferstehung und das
Leben«, begann Mr. Miles. »Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich
stürbe ... Obwohl mein Leib von Würmern verzehrt werden wird, so werde ich doch
in meinem Fleisch Gott schauen ...«
In meinem Fleisch werde ich Gott
schauen! Charity
dachte an den klaffenden Mund und die blicklosen Augen unter dem Tuch, an das
schwärende Bein, über das sie den Strumpf gezogen hatte ...
»Wir kamen ohne etwas auf die Welt,
und ohne etwas gehn wir wieder ...«
Plötzlich hörte man ein Gemurmel und
Scharren hinter der Gruppe.
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