Egeland, Tom
jeder Historiker hat das Recht zu einer eigenen Meinung. Aber es ist eine Tatsache, dass es lange dauert zu sterben, wenn man nicht ernsthaft krank ist oder innere Verletzungen zugefügt bekommt. Der Körper ist ein robuster Organismus. Alles ist auf das Leben ausgerichtet. «
» Soweit ich weiß, hing Jesus über Stunden am Kreuz? «
» Das bedeutet nichts. Es dauerte Tage, bis der Tod die Gekreuzigten erlöste. Oft viele Tage. Wenn die Wächter nicht barmherzig waren und ihnen die Beine brachen oder ihnen mit der Lanze den Gnadenstoß gaben. «
Ich versuche, mir das Leiden vorzustellen.
» Damit Sie meinen Gedankengang verstehen «, fährt er fort, » müssen Sie wissen, wie die Römer diese Kreuzigungen vornahmen. Alles hatte einen genauen Ablauf. «
» Ich weiß nicht, ob ich das wirklich hören will. «
» Im Sommer 1968 fanden einige Forscher unter der Leitung eines Archäologen namens Tzaferis vier Grabhöhlen bei Giv ’ at ha-Mivtar im Norden von Jerusalem. In den Grabhöhlen lagen fünfunddreißig Skelette. Datierungen ergaben, dass die Zeitpunkte des Todes zwischen Ende des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung und dem Jahr 70 n. Chr. lagen. Jedes der Skelette erzählte seine grausame Geschichte. Ein Dreijähriger hatte einen Pfeil in den Kopf bekommen. Ein Jugendlicher und eine ältere Frau waren bei einem Brand ums Leben gekommen. Einer Frau war im Alter von etwa sechzig Jahren der Schädel eingeschlagen worden. Eine andere Frau, etwa dreißig Jahre alt, war im Kindbett gestorben, die Reste des Kindes steckten noch in ihrem Becken. Das Interessanteste aber war ein Mann, der gekreuzigt worden war. «
» Jesus? «
» Nein «, sagt MacMullin, » das wäre eine gewaltige Sensation gewesen. Unser Mann war jünger als Jesus. Aber der junge Mann, der infolge der Grabinschrift Jehohanan hieß, wurde im gleichen Jahrhundert gekreuzigt wie Jesus, und zwar nicht nur in etwa zur gleichen Zeit, sondern auch am gleichen Ort, in der Nähe von Jerusalem, von den Römern. Wir können deshalb davon ausgehen, dass es viele Parallelen zur Kreuzigung Jesu gab. «
» Ich würde am liebsten keine Details hören. «
» Die Art der Hinrichtung war ganz einfach grausam. Unbe schreiblich brutal. Nach der Urteilsverkündung wurde das Opfer ausgepeitscht und geschwächt. Dann wurden die Arme entweder mit Riemen oder mit Nägeln an dem schweren Holzbalken befestigt, der horizontal hinter dem Nacken und den Schultern verlief. Diesen Balken musste das Opfer bis zum Richtplatz schleppen, wo er an einem vertikalen Pfahl befestigt wurde. «
MacMullin lässt seine Hände auf seinen Schenkeln ruhen, unbewusst ballen sich seine Fäuste.
» Das Interessante bei Jehohanan ist, dass der untere Teil seines Unterarmes Spuren eines Nagels aufwies «, sagt er. » Mit anderen Worten –er wurde nicht durch die Handflächen ans Kreuz geschlagen, sondern durch den Unterarm. Die Handflächen können nicht das Gewicht eines erwachsenen Mannes tragen. Des Weiteren waren Jehohanans Beine zusammengepresst und zur Seite gedrückt worden, sodass die Knie vom Pfahl abstanden; außerdem hatte man einen Nagel durch beide Fersen getrieben. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Kreuz mit einem kleinen Absatz ausgerüstet war, auf den Jehohanan sein Gesäß drücken konnte. Mit anderen Worten; Er hing in einer höchst unnatürlichen, verdrehten Stellung. «
MacMullin nippt am Sherry. Wir blicken in die Flammen im Kamin.
» In dieser Art an den Armen nach vorne zu hängen, macht es sehr schwer zu atmen «, fährt er fort. » Brutal wie sie waren, verlängerten die Henker das Leiden oftmals dadurch, dass sie den Füßen oder dem Gesäß einen gewissen Halt gaben, damit das Opfer mehr stand als hing, wenn Sie verstehen. Mit einem Absatz für die Füße konnte ein gesunder kräftiger Mann ein oder zwei Tage am Kreuz überleben –mancher sogar eine Woche. « MacMullin sieht mich an und schluckt. » Es gibt kaum eine unmenschlichere Art der Hinrichtung. Die Opfer starben nicht an den Schmerzen oder dem Blutverlust, sie starben vor Erschöpfung, vor Durst, durch Ersticken oder durch Blutvergiftung! « Er massiert mit den Fingerkuppen seine Wangenknochen und sammelt sich. » Es kam vor, dass die Henker Mitgefühl mit den Verurteilten hatten und ihnen –das mag paradox klingen –die Beine brachen. Das war eine Hilfe zu sterben, denn mit gebrochenen Beinen konnten sie den Körper nicht aufrecht halten und erstickten. Das geschah mit
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