Egeland, Tom
schüttelt gedankenverloren den Kopf. » Es gibt hunderte von ihnen. Sekten, Bünde, Bewegungen, Logen. Jede von ihnen kratzt an der Wahrheit. Zahlreiche Bücher sind geschrieben worden. Dichter haben die Pseudowissenschaft und die Geheimnisse weitergesponnen. Im Internet gibt es diverse Homepages und einen eigenen Chatroom für die Diskussion über Spekulationen und Annahmen. Aber keine von diesen Gruppierungen sieht das Ganze. Keine davon hat das richtige Verständnis. Sie sind wie Fliegen, die nicht wissen, dass sie gegen eine Glasscheibe anfliegen. «
» Oder Hummeln «, sage ich schnell, aber das macht für MacMullin natürlich keinen Sinn.
» Oder Hummeln «, wiederholt er verständnislos.
Ich nehme das kalte Glas. Der Orangensaft ist frisch gepresst. » Was wurde schließlich aus den Nachkommen von Jesus? «, frage ich und lutsche an einem Eiswürfel, der klackernd und knirschend an meine Zähne stößt.
» Das ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt. «
» Warum nicht? «
» Weil nicht › etwas ‹ aus ihnen wurde. Sie lebten ihr Leben. Bekamen ihre Kinder. Und sie leben noch heute unter uns. Ein mächtiges, stolzes Geschlecht. Mitten unter uns. «
» Wissen sie, wer sie sind? «
» Praktisch keiner von ihnen. Nur ganz wenige kennen die Wahrheit. Weniger als tausend. Und jetzt auch Sie. «
» Seine Nachkommen leben noch heute «, sage ich andächtig und nachdenklich.
» Tja, doch, natürlich. Aber es sind zweitausend Jahre vergangen. Sie dürfen nicht vergessen, dass auch diese Blutlinie verwässert wurde. Wir reden schließlich von vielen Generationen. Jesu ältester Sohn war der erste Herrenmeister. Er war es, der den goldenen Schrein angeschafft und versiegelt hat. Als der erste Herrenmeister starb, übernahm dessen ältester Sohn die Verantwortung für den Schrein. So wurde der Shrine of Sacred Secrets von Generation zu Generation weitergegeben, bis er verschwand. «
» Aber was sollten all die Andeutungen, Jesus sei der Stammvater der europäischen Königshäuser? «
» Wie so vieles andere auch eine Übertreibung. Aber nicht ohne eine Spur von Wahrheit. Nach einigen Jahrhunderten heirateten Jesu Nachkommen in die Merowingerdynastie ein und wurden damit zu einem Teil der Häuptlingssippe, die bis ins Jahr 751 die königliche Macht im Fränkischen Reich innehatte. Aber beinahe niemand, nur ein paar wenige Königliche und die wechselnden Herrenmeister samt ihres innersten Kreises, erfuhr etwas über den großen Zusammenhang. Über das Geheimnis. Über Jesu Flucht und seine Nachkommen. Und schließlich wurde auch dieses Wissen zu einer Art Mythos, von dem selbst die Eingeweihten nicht wussten, ob sie wirklich daran glauben sollten. «
Ich esse mein Brötchen auf und trinke den Saft aus. Langsam wird es mir ein bisschen viel. » Und was befindet sich in dem Schrein? «
MacMullin sieht aus, als wünschte er sich von Herzen, ich würde meine Frage zurückziehen.
Deshalb wiederhole ich: » Was ist in dem Schrein? «
» Wir glauben … «, er zögert, » wir glauben, dass sich zwei Sachen darin befinden. «
Er faltet die Hände auf der Tischplatte. Schluckt. Er will das Geheimnis nicht preisgeben. Zu schweigen ist bei ihm ein Reflex des zentralen Nervensystems. Noch niemals zuvor hat er einem Außenstehenden die Wahrheit gesagt. Alles in ihm kämpft dagegen an, doch er sieht ein, dass er keine andere Wahl hat. Ich bin ein harter Brocken.
Er sieht mich flehend an. » Zum letzten Mal, Bjørn … werden Sie mir den Schrein geben? «
» Ja doch. «
Die Antwort überrumpelt ihn. » Ja? «
» Wenn Sie mir gesagt haben, was in dem Schrein ist. «
Ich spüre, wie die letzte widerspenstige Gegenwehr in ihm zusammenbricht.
Er presst die Augen zusammen. » Eine Wegbeschreibung «, sagt er. » Vermutlich eine Karte. «
» Eine Karte? «
» Eine Beschreibung, die zum Grabe Jesu führt. Vermutlich eine Grotte, in der er seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Sein Grab auf Erden. Aber viel wichtiger … «
Er schlägt die Augen auf, sieht mich aber nicht an.
Ich schweige.
Er blickt an mir vorbei. » Jesu Evangelium «, sagt er. » Das, was Jesus selbst über sein Leben geschrieben hat, seine Tätigkeiten, seinen Glauben und seinen Zweifel. Und über die Jahre nach der Kreuzigung. «
MacMullin dreht sich um und sieht aus dem Fenster – in den Himmel, hinunter auf die Landschaft unter uns, in das zerfaserte Licht, die Wolken.
Mit kurzen, schnellen Atemzügen lässt er all die kleinen
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