Egeland, Tom
sag mir, was du über die Sache weißt «, bitte ich.
Sie blinzelt zufrieden und räuspert sich. Mit brüchiger, vibrierender Stimme erzählt Grethe von dem Kreuzritter, der im Jahre 1186 ein Reliquiar zum Johanniterorden in Jerusalem brachte. Später wurde dieses Reliquiar unter dem Namen The Shrine of Sacred Secrets bekannt. Die Johanniter erhielten einen Befehl von Papst Clemens III., diesen heiligen Schrein nicht nur zu bewachen, sondern ihn auch zu verstecken, weit abseits von Räubern, Kreuzrittern und Fürsten, von Bischöfen, Päpsten und Königen. Als der ägyptische Sultan Saladin im Jahr darauf Jerusalem einnahm und die Johanniter flohen, verschwanden alle Spuren. All die Abenteurer und Glücksjäger, die sich in den Jahrhunderten danach auf die Suche nach dem Schatz machten, hatten nur einen einzigen Anhaltspunkt: Der heilige Schrein liegt in einem Oktogon, einem achteckigen Tempel.
» Beim Kloster Værne? «, frage ich säuerlich.
Sie sitzt zurückgelehnt da und sieht mich an. Ein nachsichtiges Lächeln lauert im Hintergrund: » Warum nicht? «
Ich kann das Lachen nicht zurückhalten.
Sie tätschelt mein Knie. » Lillebjørn, ich weiß, was du denkst. Du warst immer schon so ungeduldig, so ungläubig, so schnell bereit, Schlüsse zu ziehen. Was habe ich dir an der Universität beigebracht? Habe ich dich nicht gelehrt, Skepsis mit Fantasie zu kombinieren? Verständnis mit Verwunderung? Zweifel mit Offenheit? Du musst den Geheimnissen lauschen, den Sagen, den Märchen, den Religionen. Nicht weil sie dir die Wahrheit sagen, Lillebjørn. Sondern weil sie aus einer anderen Wahrheit entstanden sind. «
Die Intensität in ihrer Stimme und ihr Blick erschrecken mich. Als wolle sie mir den Schlüssel zum ewigen Leben geben, ehe sie in einer Wolke aus Rauch und Funken verschwindet. Sie tut nichts davon. Sie beugt sich vor und nimmt ein Bonbon aus der Schale auf dem Tisch. Steckt es in den Mund. Ich höre, wie es an ihren Zähnen klackert.
Sie legt den Kopf auf die Seite. » Das Kloster Værne war kein unüberlegtes Versteck. Das Kloster lag so weit wie nur möglich vom Heiligen Land entfernt. Norwegen war ein Vorposten der Zivilisation. Und die Historiker wussten sich nie wirklich zu erklären, warum die Johanniter hier am Ende des zwölften Jahrhunderts ein Kloster gegründet haben. « Sie schüttelt gedankenverloren den Kopf. » Wenn ihr wirklich auf das Oktogon gestoßen seid, Lillebjørn, und ihr wirklich einen Schrein gefunden habt … « Sie lässt den Satz ausklingen.
» Was ist in dem Schrein? «, frage ich.
» Das genau ist die Frage. Was ist in dem Schrein? «
» Du weißt es nicht? «
» Nein, Gott bewahre! «, sagt sie. » Ich habe keine Ahnung. Es gibt einige Gerüchte. Es wird noch immer davon geredet, dass die Merowingerdynastie einen Schatz unvorstellba rer Dimensionen versteckt hat. Gold und Edelsteine, die die Kirche und die königliche Familie über Generationen angehäuft haben. «
» Bitte! «, unterbreche ich sie mit einem tiefen, aufgesetzten Seufzer. » Versteckte Schätze? Hast du jemals gehört, dass jemand einen solchen Schatz gefunden hätte? «
» Vielleicht wartet der noch darauf, gefunden zu werden? «
» Indiana-Jones-Romantik. «
» Lillebjørn «, sagt sie und schürzt die Lippen auf eine Weise, dass ich weiß, was sie sagen will, » ich spreche von Gerüchten, die seit Jahrzehnten in akademischen Fachkreisen kursieren. Ich glaube nicht daran. Aber ich bin auch nicht so unerschütterlich vom Gegenteil überzeugt wie ein gewisser junger Mann, den ich kenne. «
» Also, was sagen diese … Gerüchte? « Ich spucke das Wort aus wie eine faule Kirsche.
» Es existiert eine Karte. Und eine Genealogie. Codierte Texte. Ich kenne die Geschichte nicht bis ins Detail. Diese Geschichte hat ihren Ausgangspunkt in einem südfranzösischen Dorf mit Namen Rennes-le-Château, wo ein junger Pfarrer im letzten Jahrhundert ein paar Pergamentrollen gefunden hat, die ihn unvermittelt sehr reich gemacht haben. Unfassbar reich. Niemand weiß genau, was er gefunden hat, als er die alte Kirche, die er übernommen hatte, renovieren wollte. Es heißt, die Pergamente hätten ein großes, unvorstellbares Geheimnis beinhaltet. «
» Als da wäre? «
» Wenn ich das wüsste, Lillebjørn, wäre es wohl kein Geheimnis mehr, oder? Manch einer dachte in Richtung religiöser Geheimnisse. Dass er die Bundeslade gefunden hatte, was gar nicht so unwahrscheinlich war, da die Kirche auf den Ruinen
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