Egeland, Tom
wirklich real. Ich versuche, mir die überstürzte Flucht ins Gedächtnis zurückzurufen. Den Weg nach Heathrow, den Flug nach Hause, die sich ziehende Fahrt mit Bolla von Gardermoen zum alten Haus meiner Großmutter am Fjord. Aber ich kann die Bilder nicht wirklich festhalten.
Wir sind am frühen Abend im Sommerhaus angekommen. Das Meer war still. In meinem Dachzimmer haben wir uns zwischen den Hardy-BoysBüchern , den alten Magazinen und ausgelesenen Das-BesteAusgaben aus dem Jahre 1969 beim Duft des sonnenwarmen Staubs geliebt, sommersüß und intensiv. Später am Abend hat sie ihre Seidenbänder herausgesucht und mich gebeten, sie zu fesseln und es noch einmal zu tun, dieses Mal etwas härter. So machten wir eine ganze Weile weiter. Schließlich befreite ich Diane und ließ die Seidenbänder an den Bettpfosten hängen.
Mitten in der Nacht erwachte ich von ihrem Weinen. Ic h f ragte, was los sei. Doch sie sagte, ich solle mir keine Gedanken machen. Ich lag in der Wärme der Nacht und lauschte ihre m A tem.
∗ ∗ ∗
E ine alte Frau, die auf dem Bürgersteig auf mich zukommt, hat ihren Blick auf mich geheftet. Sie bleibt stehen und stellt ihre Taschen ab.
» Ja? «, sagt sie und sieht mir direkt ins Gesicht. Laut und herausfordernd. Als gehöre ihr das Haus. Und der Bürgersteig. Und große Teile des Zentrums von Oslo. Und als habe sie ihr Hörgerät verlegt.
» Ich bin auf der Suche nach Grethe Lid Wøien «, sage ich. Ebenso laut. Wie unbedachte Menschen mit Alten und Zurückgebliebenen eben reden.
» Frau Wøien? «, fragt sie. Als ob Grethe jemals die Frau von irgendwem gewesen wäre. Die Stimme klingt jetzt freundlicher. » Sie ist nicht zu Hause. Sie haben sie abgeholt. «
» Wer hat sie abgeholt? «
Die Frage kam etwas zu schnell, etwas zu scharf. Sie sieht mich verschreckt an.
» Wer sind Sie eigentlich? «
» Ein Freund! «
» Der Krankenwagen! «, sagt sie.
∗ ∗ ∗
G rethe sitzt aufrecht im Bett. Eine Zeitung liegt aufgeschlagen auf ihrer Decke.
» Lillebjørn! «
Ihre Stimme ist dünn. Ihr Gesicht wirkt wie ein Schädel, über den man zu viel Haut gezogen hat. Die Hände zittern und bringen die Zeitung zum Knistern. Das Geräusch erinnert an trockenes Laub im Morgenwind eines Novembertages.
» Ich habe versucht, dich aus London zurückzurufen. Mehrmals «, sage ich.
» Ich war nicht zu Hause. «
» Ich wusste nicht, dass du eingeliefert worden bist. «
» Nur für ein paar Tage. Ich bin zäh. Ich will dich damit nicht belasten. «
» Du sollst ehrlich sein! «
» Ich weiß, ich weiß, aber ich wollte nicht stören. «
» Wie fühlst du dich? «
» Das ist nicht so wichtig. Wie lief es? In London? «
» Das alles ist total verwirrend. «
» Was hast du herausgefunden? «
» Dass ich weniger weiß als zuvor. «
Sie lachte leise. » So ist das mit dem Wissen. «
Ich setze mich auf die Bettkante und nehme ihre Hand.
» Du musst mir etwas sagen «, bitte ich.
» Dann frag, mein Junge. «
» Wer ist Michael MacMullin? «
» Michael MacMullin … «, sagt sie leise.
» Und Charles DeWitt? «
Langsam schließen sich ihre Augenlider, und die Innenseite verwandelt sich zu einer Leinwand für ihre Erinnerungen.
» Michael … « Sie hält inne, es geschieht etwas mit ihrer Stimme, » ein naher, guter Freund! Er war mein Vorgesetzter, als ich Gastdozentin in Oxford war. Ja «, ihr Gesicht bekommt einen schelmischen Zug, » mehr als ein Vorgesetzter. Viel mehr. Ein kluger, guter Mann. Wenn alles anders gelaufen wäre, hätten er und ich vielleicht … « Sie schlägt die Augen auf und wischt den Gedanken mit einem Lächeln weg. » Wir haben über die Jahre Kontakt gehalten. «
» Und DeWitt? «
» Charles DeWitt. Ein Kollege und Freund von deinem Vater. Er hat zusammen mit deinem Vater und Llyleworth diese Abhandlung verfasst. Ein netter, kleiner Engländer, ei n s chrulliger Kerl, verheiratet mit einem Drachen von Frau. Er ist gestorben. Im Sudan. Er hatte sich verletzt und eine Gangrän bekommen. «
» Und das wusstest du alles? «, frage ich.
» Natürlich, das waren meine Freunde. «
» Aber du hast mir nichts gesagt. «
Sie sieht mich verwundert an. » Warum denn? Hast du gefragt? Warum ist das wichtig? «
Ich drücke leicht ihre Hand.
» Ich habe noch eine Frage. « Ich zögere, weil ich weiß, wie wahnwitzig sich das anhört. » Könnten sie ihn getötet haben? «
Grethe reagiert vollkommen natürlich. Sie ist verwundert.
» Kann wer wen getötet haben?
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