Egeland, Tom
«
» Vielleicht ist es dieser Orden, der auf der Jagd nach dem Schrein ist, Lillebjørn. «
» Ein geheimer Orden? «
Die Frage klingt reichlich ungläubig. Besser gesagt herablassend. Deshalb gibt sie auch keine Antwort.
» Dann wissen sie wohl auch, was sich in dem Schrein befindet? «, frage ich weiter.
Grethe starrt vor sich hin. » Sie waren immer auf der Suche. Immer. Ich glaube, es war der Schrein, nach dem sie gesucht haben. Alles ergibt jetzt langsam einen Sinn. Alle Puzzlesteine finden ihren Platz. « Grethe sieht zu mir auf. Ihre Augen rollen. Ich weiß nicht, ob sie richtig bei Besinnung ist.
Ich stehe auf und trete ans Fenster. Das scharfe Licht zwingt mich zu blinzeln. Ein paar Arbeiter bauen am Nachbarhaus ein Gerüst auf. Es sieht wacklig aus. Aber sie wissen wohl, was sie tun.
» Du bist erschöpft «, sage ich. » Es ist vermutlich besser, wenn ich jetzt gehe. «
» So sinnlos «, murmelt sie. Und lauter: » Das habe ich auch Birger gesagt. «
Ich weiß nicht, wovon sie spricht.
» Ich habe ihn gewarnt! Ich habe es ihm gesagt! «
Sie atmet schwer, schluckt, doch dann leben ihre Augen wieder auf. Als finde sie zurück in die Wirklichkeit. Eine Art von Wirklichkeit.
» Niemand ist so, wie man glaubt, Lillebjørn! «
Ich drücke ihre Hand. » Es ist an der Zeit, dass ich gehe. Du bist müde. «
» Es gibt so viel, das wir eigentlich gar nicht wissen wollen. «
Sie sieht mich an, als wolle sie etwas erzählen oder eher, als wolle sie mich etwas verstehen lassen.
» Ich weiß «, sage ich leise. » Aber ich sollte mich jetzt auf den Weg machen. «
» So viel, das wir nicht wissen wollen «, wiederholt sie. » Auch wenn wir es glauben. So vieles, das wir besser nicht wissen sollten. Das uns nicht gut tut. «
» Was versuchst du, mir zu sagen? «
Sie schließt die Augen, und nicht einmal der Widerhall ihrer Worte macht Sinn.
» Hast du Angst, Grethe? «, frage ich.
Sie schlägt die Augen auf. » Angst? « Sie schüttelt den Kopf.
» Man stirbt erst, wenn niemand mehr weiß, dass es einen gegeben hat «, sagt sie.
∗ ∗ ∗
A uf dem Rückweg vom Krankenhaus halte ich an einer Telefonzelle. Ich hätte mir wohl ein Handy anschaffen sollen, aber es gefällt mir besser ohne. Das gibt mir ein absurdes Gefühl der Freiheit. Niemand weiß, wo ich bin. Niemand kann mich erreichen. Nicht, wenn ich es nicht selbst will.
Zuerst rufe ich Diane an. Nur um ihre Stimme zu hören. Sie hebt nicht ab. Sie sitzt wohl draußen auf der Terrasse.
Dann rufe ich Caspar an.
Er ist aufgeregt, seine Stimme zittert. Bei ihm ist eingebrochen worden. Zu Hause und in seinem Büro. Er kann es nicht fassen, dass jemand an beiden Orten war. Am gleichen Tag! Er ist zu aufgeregt, um mit mir zu reden. Das ist vermutlich ohnehin egal.
3
SICHERHEITSHALBER PARKE ICH Bolla in einer Seitenstraße unterhalb des Hochhauses und schleiche mich über den Pfad zwischen den Bäumen und dem Sportplatz zum Eingang.
Vor zehn Jahren waren die Blöcke grau und funktionell . Hässlich wie kaum etwas anderes. Jetzt haben die Architekten das Konzept überarbeitet. Neue Fassaden, frische Farben, Balkone. Neue Fenster. Dennoch, sie bleiben hässlich wie kaum etwas anderes.
Ich fahre mit dem Aufzug in die zehnte Etage und schließe meine Wohnungstür auf. In der Wohnung riecht es abgestanden. Wie nach einem Urlaub. Ich nehme einen weiteren Geruch wahr: kalten Zigarrenrauch.
Alles ist noch genauso unordentlich wie nach dem Einbruch. Sogar mein Bettzeug haben sie heruntergerissen. Meine Bücher stapeln sich am Fußboden. Die Schubladen sind geöffnet.
Irgendetwas stimmt nicht. Ich weiß nicht, was. Das ist wieder meine Intuition. Ich hätte nicht kommen sollen.
Ich überprüfe den Anrufbeantworter. Vier Nachrichten von Mama. Acht von der Universität. Eine von der SIS. Sechs, ohne dass sich jemand gemeldet hätte. Und drei von Piepsstimme, der mit zunehmender Verärgerung fordert, dass ich endlich Kontakt mit der Polizei aufnehme.
Sofort!
Mit einem Seufzen nehme ich den Hörer ab und tue, was ich muss. Ich rufe Mama an.
Sie nimmt gleich ab und wiederholt mit kühler Stimme ihre Telefonnummer. Als sei ihr Nachname zu persönlich, um ihn allen mitzuteilen, die ihre Nummer gewählt haben.
» Ich bin ’ s «, sage ich.
Eine Weile bleibt es still. Als gelinge es Mama nicht recht, meine Stimme einzuordnen. Als sei ich irgendjemand, der ihre Nummer gewählt hat.
» Wo warst du? «, fragt sie.
» Im Ausland. «
» Ich habe
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