Egeland, Tom
Erdgeschoss. Ha ha! Sollte das Schlimmste eintreffen, meine ich. Man muss das Positive darin sehen! «
Sie scheint eine Frage auf den Lippen zu haben, doch ich sage: » Ich habe noch viele Balkone zu inspizieren, ich denke, ich nehme die Abkürzung! « Damit klettere ich auf die Brüstung und springe ins Gras, wo ich etwas unglücklich lande. Frau Olsen blickt mir verwirrt nach, als ich zum Pfad zwischen den Bäumen hinke. Dort drehe ich mich um. In der zehnten Etage erkenne ich den Umriss eines Mannes hinter den Spiegelungen auf den Fenstern meiner Wohnung.
In der Etage darunter steht Nicole am Fenster.
Ich winke ihr zu. Sie winkt zurück.
Auf dem Balkon ganz unten hebt Frau Olsen zögernd die Hand und bewegt sie von rechts nach links.
Ich verschwinde zwischen den Stämmen.
Um die Infrarot-Missiles meiner Widersacher zu täuschen, schlendere ich eine ganze Weile durch die Straßen der Nachbarschaft. Nicke munter jungen Frauen mit Kinderwagen zu. Grüße Hunde und Vögel. Kleine Kinder, die den blassen, verrückten Mann ohne jede Hemmung anstarren.
Zum Schluss wage ich mich zu Bolla. Sie haben sie nicht entdeckt, meine arme Kleine.
Die Tasche mit dem Schrein lege ich auf den Rücksitz und werfe meine Jacke darüber.
4
DER GARTEN UM DEN PALAST am Nedre Holmenkollen leuchtet in allen Farben. Die Büsche blühen. Alles ist so verdammt geglückt. Sogar der Rasen sieht zufrieden aus.
Ein paar Minuten stehe ich hyperventilierend auf der Treppe, ehe ich mich aufraffe und klingle. Als Mama öffnet, sehe ich ihr an, dass sie getrunken hat. Die Schminke klebt wie Spachtelmasse in den haarfeinen Falten. Die Augen sind schwer von Valium und Wein. Die Lippen sehen aus wie zerküsst. Plötzlich schießt mir durch den Kopf, dass sie wie eine Puffmutter aussieht, die gerade von einer obskuren, religiösen Sekte bekehrt worden ist.
» Mein Junge? Du, schon? «, sagt Mama.
Das ist nicht als Frage gemeint. Sie erkennt, dass sie von etwas Unumgänglichen eingeholt worden ist.
» Ich bin es. Wo ist der Professor? «
» Trygve? Er musste weg. Ganz plötzlich. «
» Wohin? «
» Warum ist das wichtig? Stimmt etwas nicht? Was machst du zurzeit? Wie fühlst du dich? «
Die Fragen strömen aus ihr heraus. Jedes Mal wenn ich mich ungewöhnlich aufführe, glaubt Mama, ich hätte einen Rückfall erlitten. Dass die Pfleger der Klinik mit ihren Netzen und Zwangsjacken auf der Suche nach mir die Stadt durchkämmen. Oft scheint es so, als schäme sie sich für meine Nerven. Als würde sie etwas Greifbareres vorziehen. Wie Krebs. Infarkt. Creutzfeldt Jacob. Aids. Ich habe versucht, ihr zu erklären, dass das Gehirn eigentlich auch nichts anderes ist als das Herz oder eine Niere. Eine Masse aus Nervenzellen, Fasern, Fettgewebe und Flüssigkeiten, in der sich unsere Gedanken –alles, was wir spüren, was wir sind –im Grunde auf chemische und elektrische Impulse reduzieren lassen. Und dass ein psychisches Leiden nicht mehr ist als ein Ungleichgewicht. Aber Mama gehört zu den Menschen, die sofort heftig erschrecken, wenn jemand sagt, er habe Probleme mit den Nerven. Die sich zurückziehen. Als hätten die anderen vor, ihr den Kopf abzuschlagen. Und zu essen.
Wir gehen durchs Wohnzimmer, in einem großen Bogen um den persischen Teppich herum, bis in die Küche. Breuer hebt den Kopf und rülpst. Sein Schwanz klatscht zwei-, dreimal auf den Boden. Das ist alles, was er an Wiedersehensfreude mobilisieren kann, ehe er seinen Kopf wieder auf die Pfoten sinken lässt.
Ich stelle die Tasche mit dem Schrein auf den Boden. Mama hat keine Ahnung, was darin ist.
Stille.
» So … du wolltest … mit mir reden? «, sagt sie.
Es gelingt Mama nie, sich zu verstellen. Es sollte sich bestimmt locker anhören, entspannt, im Sinne von nett-dass du-vorbeikommst, doch es klingt wie ein Schluchzen.
Tief in mir habe ich auf dieses Gespräch hingearbeitet, seit ich zehn Jahre alt war. Man kann also sagen, dass ich vorbereitet bin. Ich habe meine Sätze aufs Genaueste konzipiert, sie zurechtgeschliffen, poliert und geputzt, und mir bereits Gedanken über Mamas mögliche Antworten gemacht. Doch alles, was ich mir eingebläut habe, verschwindet in einem Strudel des Vergessens.
Ich sehe Mama an. Sie erwidert meinen Blick.
Zu guter Letzt sage ich bloß: » Ich habe euch gesehen! «
Ich weiß nicht, was sie erwartet hatte. Aber sicher nicht das.
» Uns gesehen? «, fragt sie verwundert.
» Auf der Zelttour. «
» Zelttour? «
Im Hintergrund höre
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