Egeland, Tom
nicht ans Telefon gegangen, als ich angerufen habe. Auf dem Küchentisch liegen der Kassenzettel und eine Hand voll Kleingeld. Ich frage mich einen Moment lang, woher sie norwegisches Geld hatte. Unter einer Frischhaltefolie steht ein Teller mit Essen, das sie für mich vorbereitet hat. Schinken, Rühreier, Rohkost. Auf dem Teller liegt ein Zettel, auf dem in großen Buchstaben mein Name steht. Als wolle sie sichergehen, dass niemand von meinem Tellerchen isst.
Ich suche sie. Im Bad, wo der Anblick ihrer Zahnbürste im Becher unter dem Spiegel mein Herz schneller schlagen lässt. Im Wohnzimmer. In Großmutters Schlafzimmer. Im Gästezimmer. Im Dachzimmer, wo ihr aufgeklappter Koffer steht. Auf dem Dachboden. Im Garten hinter dem Haus.
Sie muss spazieren gegangen sein.
Ich nehme den Teller und ein Bier mit nach draußen und setze mich auf die Terrasse. Unten am Ufer steht ein Mann und fischt. Er muss vom Campingplatz sein, denn alle, die hier wohnen, wissen, dass man so nah am Ufer nichts fängt. In der Mitte des Fjords schneidet sich ein Segelboot durch di e W ellen. Die Linse eines Fernglases blinkt auf der Yacht auf, die vor der Mole ankert.
Wo kann sie sein?
Ich esse meinen Teller leer, trinke das Bier und gehe wieder rein. Langsam bekomme ich Angst. Sie würde niemals einen langen Spaziergang machen, wenn sie jeden Moment mit mir rechnete. Ich setze mich in den grünen Velourssessel, den Großmutter so geliebt hat. Die Federn knirschen. Das Geräusch versetzt mich in meine Kindheit, wenn das klagende Quietschen der Sprungfedern Großmutters Menschen fressenden Rottweiler Grim unter das Sofa trieb, wo er winselnd zitterte. Schon damals musste ich denken, dass es Geräusche gibt, die nur einige wenige hören können. So gesehen ist es gut möglich, dass manche Menschen auch Geister sehen können.
Ich gehe in den Garten hinter dem Haus und setze mich in die Hollywoodschaukel, die sich sanft hin-und herbewegt. Die Luft ist voller Vögel. Ein Schnellboot jagt über die Wasseroberfläche. Das Seil an der Fahnenstange des Nachbars schlägt mit einem hohlen, fröhlichen Laut an den Mast. Ich sehe auf die Uhr.
Erst jetzt wird es mir klar.
Sie haben sie geholt.
Sie wussten von diesem Ort. Sie haben uns überwacht.
Das Gefühl, die Oberhand zu haben, ist eine Illusion. Ein Selbstbetrug.
Ich gehe wieder hinein und suche nach etwas, das sie mir zurückgelassen haben kann; einen Zettel, ein heimliches Signal. Noch einmal durchsuche ich alle Zimmer. Mein Kopf rauscht. Als hätte ich zu viel getrunken. Voller Verzweiflung laufe ich hinunter ans Wasser. Als würde ich fürchten, sie dort treibend zu sehen. Mit dem Gesicht nach unten.
Als ich mich wieder dem Haus nähere, höre ich das Tele fon klingeln. Ich renne die Steintreppe hoch und stürze ins Haus, komme aber zu spät.
Ich hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Nehme einen Schluck. Mein Atem geht schwer.
Ich versuche zu verstehen. Warum haben sie sie mitgenommen? Wenn es denn so war. Warum sie? Wo ist sie? Was wollen sie mit ihr? Mich mit ihr erpressen? Ich trinke das Bier, rülpse und stelle die leere Flasche zu den toten Fliegen auf die Fensterbank.
Wieder klingelt das Telefon. Ich nehme den Hörer ab und rufe: » Diane! «
» She ’ s okay. Diane ist jetzt bei uns. «
Die Stimme klingt tief, fremd. Gut artikuliert. Es schwingt etwas Warmes mit, das sie falsch wirken lässt.
Ich bringe kein Wort heraus. Die Wohnzimmereinrichtung kommt mir in allen Details entgegen. Als hätte ich sie nie zuvor gesehen.
» Wir würden gerne mit Ihnen reden «, sagt der Mann.
» Was haben Sie mit ihr gemacht? «
» Nichts. Kein Grund zur Sorge. Haben Sie gegessen? «
» Wo ist sie? «
» Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Ihr geht es gut. Hat das Essen geschmeckt? «
» Scheiß auf das Essen! Warum haben Sie sie mitgenommen? «
» Beruhigen Sie sich. Lassen Sie uns zu einem Gespräch treffen. «
» Ich habe schon mehr als genug von Ihrem Gerede. Ich rufe jetzt die Polizei an! «
» Gerne, aber die kann wohl auch nichts tun. «
» Diane hat nichts mit der Sache zu tun! «, rufe ich.
» Wann können wir den Schrein bekommen? «
Ich knalle den Hörer auf die Gabel und stürme auf die Ter rasse. Ich brauche Luft! Mir wird schwindelig. Mit den Händen auf dem Geländer bleibe ich stehen und ringe nach Atem.
Weit draußen auf dem Fjord haben sich einige kleine Boote zum Fischen versammelt. Möwen kreisen laut schreiend über den Booten. Eine unsichtbare
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