Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
1989 die Mauer fiel; und dies alles mit der Kraft der Gedanken. Zum ersten Mal in der Geschichte, so schien es, war ein mathematisches Gedankenmodell, das seine Premiere auf Computern hatte, zur Waffe geworden.
Dieser Sieg war der entscheidende Grund, warum man anfing, die Idee mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Immerhin: Der Kalte Krieg war gewonnen worden, was will man mehr zum Beweis der Gültigkeit der Theorie?
»Wir konnten bei der Sowjetunion«, sagte Barack Obama noch als Senator und mit Blick auf die Irrationalität der neuen Weltordnung im Jahre 2004, »das Modell verstehen, mit dem sie operierten. Es lautete etwa: Sie wollen nicht in die Luft gejagt werden, wir wollen nicht in die Luft gejagt werden, also benutzt man die Spieltheorie und berechnet Wege, die Sache in Schach zu halten.« 73
Das Spiel schien so wunderbar zu funktionieren, dass man es weiterspielen wollte. Theorie und dazugehöriges Menschenbild begannen sich zu verselbstständigen. Entkoppelt von dem Systemkonflikt, begann man, trotz der Warnungen einiger Ökonomen zu vergessen, wofür sie einst aufgestellt worden waren. Man machte einfach weiter und begann nun, verstärkt durch moderne Rechenmaschinen, die eigene Gesellschaft zu verändern.
Die deutsche Öffentlichkeit, beschäftigt mit der Wieder vereinigung, schlug sich mit den Altlasten des Kommunismus herum. Die Frage, was vom Kalten Krieg blieb und was davon möglicherweise in anderer Gestalt weiterlebte, stellte sie sich merkwürdigerweise nicht. Sie merkte nicht, dass die Waffe des Kalten Krieges sich in etwas verwandelte, was man »Neoliberalismus« und »Informationsökonomie« nannte, und dass sie gerade im Begriff war, sich gegen die großen Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu richten.
John McDonald, jener erste Reporter, der Anfang der Fünfzigerjahre in die noch ultrageheimen Büros der Spieltheoretiker vorgelassen wurde, hatte der Welt freudestrahlend verkündet: »Die Mathematiker haben ein perfektes, narrensicheres System entdeckt, mit dem man alle Arten halsabschneiderischer Spiele spielen kann: von Poker über das Business – bis zum Krieg.« Der Nervenkrieg mit Moskau war vorbei. Man schrieb den 9. November 1989. Jetzt zog der Kalte Krieg ins »business« ein. Und zwar buchstäblich. Er packte seine Koffer und zog an die Wall Street.
7 Soziale Physik
Herr Pimbley hält eine Rede,
und mahnt Physiker, sich für die Wall Street
schick zu machen
R evolutionen kosten Köpfe und Frisuren. Kurz nach der Französischen Revolution wurden billige Arbeitskräfte beschäftigt, die in der Massenfabrikation einfache Rechenaufgaben erledigen sollten.
Und erstaunlicherweise nannte man sie bereits: »Computer«.
Sie bestanden größtenteils aus ehemaligen Friseuren, die durch den neuesten Trend der revolutionären Haarmode und die bedauerliche Kopflosigkeit ihrer früheren adligen Kunden arbeitslos geworden waren.
Gewiss fühlt man sich wohler, wenn ein Friseur rechnet, als wenn der Henker einem die Haare schneidet. Es ist alles eine Frage der Aufgaben- und der Kompetenzverteilung, aber beides liegt nur eine Haaresbreite voneinander entfernt. Wir denken uns das Leben als Evolution, vergessen aber immer, dass es die Mutation ist, die Monster und das Unvorhergesehene schafft.
Mit immensen Aufwand an Geld, Material, Begabungen wur den die Systeme der »geschlossenen Welt« des Kalten Kriegs gebaut: Radaranlagen, Raketen, die ersten Computer und Datennetzwerke, die mathematischen Modelle – und alles war Kopfkino. Die Bombe ist glücklicherweise nie zum Einsatz gekommen, und auch der direkte militärische Konflikt der beiden Weltmächte fand nie statt.
Die Kriegsschauplätze im Kalten Krieg waren unwirkliche, hermetische Räume. Der Wissenschaftshistoriker Paul N. Edwards hat sie in seinem Klassiker »Die geschlossene Welt« minutiös beschrieben. Selbst die katastrophalen und keineswegs virtuellen Kriege in Korea und Vietnam gehörten in das System der Spielzüge von Nummer 2 und seiner Urfrage: Wie besiege ich jemanden, der die Atombombe hat?
Alles war symbolisch, jede Handlung ein Spielzug. Denn genauso verlief ja der Kalte Krieg: nicht mit Waffengewalt, sondern durch psychologische Einschüchterung.
Das alles endete mit dem Untergang der Sowjetunion im Jahre 1991. Weil seinerzeit der Blick einzig auf den untergegangenen Kommunismus gerichtet war, haben wir uns allerdings weniger dafür interessiert, was mit dieser ungeheuren Entfaltung an Energie geschah,
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