Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
nachdem die unmittelbare Systembedrohung abgewendet war.
Schon in der Nacht, als die Berliner Mauer fiel, wurden in den kommunistischen Staaten reihenweise Hirnzellen abgeschaltet, die sich ein Leben lang mit Marxismus-Leninismus und dem historischen Materialismus beschäftigt hatten. SED -Funktionäre wurden Immobilienmakler, und Staatskundelehrer wechselten in die Gastronomie.
Fixiert auf die kollabierende Maschine des sozialistischen Systems und berauscht vom eigenen Triumph, erkannten viele Beobachter nicht, dass sich in der gleichen Sekunde der Denkapparat des Westens umzubauen begann. Während sich Philosophen und Journalisten noch mit den Frisuren beschäftigten, und eine der beliebtesten Perücken des Denkens hieß »Globalisierung«, verloren Menschen ihre Köpfe: Sie wurden dort nicht mehr gebraucht, wo sie die Anatomie der Gesellschaft vorgesehen hatte.
Es verschob sich die soziale Verteilung der Intelligenz unter der Schädeldecke – und wie immer, wenn soziale Leistungen verschoben werden, geschah dies durch Geld. Und anders als uns die Religion von der »Wissensökonomie« glauben machen will, geschieht so etwas nur sehr selten deshalb, weil es einen neuen Einstein gibt und man bessere Antworten und Wahrheiten hat. Die Köpfe und Talente wandern dorthin, wo es nicht nur die besseren finanziellen »incentives« gibt, sondern vor allem die prestigeträchtigeren sozialen Anreize.
Denn das Ende der unmittelbaren atomaren Bedrohung hatte massive Folgen für die Finanzierung und Karriereplanung von Physikern. Sie konnten nicht mehr blind darauf vertrauen, für ihre Forschungen vom militärisch-wirtschaftlichen Komplex, der sie seit den Dreißigerjahren subventioniert hatte, unterhalten zu werden. Die militärische Wissenschaftsplanung, die die Atombombe, die Spieltheorie, den Computer und die » RAND -Corporation« hervorgebracht hatte, formulierte ihre Prioritäten neu. Umgekehrt hatte die Wall Street zwar Ökonomen, aber keine Physiker, die sich mit der Implementierung mathematischer Modelle in den soeben massenhaft die Welt erobernden Computer auskannten.
Bei der Jahresversammlung der American Physical Society im Jahre 1996 sprach einer von ihnen, der Physiker Joseph M. Pimbley, fast nur über das beschädigte Selbstvertrauen seiner ganzen Berufsgruppe: »Jeder Physiker steht heute vor der Frage, was er mit dem Rest seiner Karriere anfangen will.« Und er empfahl seinen Kollegen die Wall Street mit ihren neuen Herausforderungen und der guten Bezahlung. »Warum dieser Fokus auf Geld?«, fragte er. »Sollte man sich seinen Job danach aussuchen, wo man am meisten verdient? Bestimmt nicht. Aber in einer freien Gesellschaft mit freien Märkten ist die finanzielle Kompensation der Ausdruck … für den Wert, den eine Gesellschaft diesem Beruf zumisst. Physiker können der Gesellschaft vielleicht am besten dienen, wenn sie eine Karriere in der Finanzwirtschaft machen. Was für eine aufhetzerische Behauptung! Glaube ich das wirklich? Nein, eigentlich nicht. Aber wir sind gezwungen, darüber zu diskutieren.« 74
»Wenn Einstein heute jung wäre«, so rief er am Ende den versammelten amerikanischen Physikern zu, »würde er vielleicht an der Wall Street arbeiten. Leider würde er so gut verdienen und wäre abends so erschöpft, dass er niemals berühmt geworden wäre.«
Pimbleys Rede ist das faszinierende Dokument eines Paradigmenwechsels. Während Pimbley seinen jungen Kollegen den sozialen und ökonomischen Status einer Wall-Street-Karriere verkaufte, erinnerten sich ohne Zweifel die Älteren an die schönen Tage, als Physiker noch das gesellschaftliche Prestige von Investmentbankern hatten (das seinerseits im Jahre 1996 noch ungetrübt war). Vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren loderte ein ganz anderes »Fegefeuer der Eitelkeiten«, und »Harper’s Bazaar« teilte in seinen Society-News mit, dass »keine Dinnerparty ein Erfolg sein kann, wenn daran nicht mindestens ein Physiker teilnimmt«.
Damals wurden junge Physiker tatsächlich mit Polizeieskorten zu privaten Konferenzen geleitet, und wichtige Physiker, die nebenher als Regierungsberater unterwegs waren, wurden mit B-52-Bombern geflogen, wenn der Pan-Am-Flug zu umständlich war. 75
Physiker und ihre Brüder im Geiste, die Ökonomen, wurden damals Ratgeber auf allen Gebieten, besetzten Schlüsselpositionen, verdienten viel Geld und stellten Ende der Fünfzigerjahre die meisten Dekane aller amerikanischen Universitäten. Unterdessen hatte
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