Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
und Hinterhältigkeit fördert«. Und auch als ein Experiment mit Studenten zeigt, dass das nicht unbedingt der Fall sein muss, bekräftigt er: »Ich glaube immer noch, dass solch eine Wirkung existiert.« 71
Sie macht Menschen zu etwas, was sie nicht sind. Und dort, wo Intuition noch lebendig ist, wehren sie die Zumutung ab, nach den Regeln von Nummer 2 zu handeln. Einmal versucht Rubinstein auf dem Basar in der Altstadt von Jerusalem mithilfe der Spieltheorie einen Preis auszuhandeln. Er macht sich zu Nummer 2. Er handelt genau so, wie die Theorie es vorschreibt, und erwartet, dass die Vorhersagen eintreffen. Das Experiment geht völlig schief. »Seit Generationen«, so quittiert der Händler das missglückte Geschäft, »feilschen wir hier um den Preis auf unsere Art – und jetzt kommen Sie und wollen das ändern.« Rubinstein bleibt nichts mehr zu tun: »Ich verließ ihn voller Scham.« 72
Heute sind wir dieser Basarhändler. Einer taucht aus dem Nichts auf und will uns zwingen, nach neuen Regeln zu handeln. Nur können wir ihn nicht wegschicken. In automatisierten Märkten zwingt er uns in seine Logik. Selbst wenn man nicht mitspielt, wird man ins Spiel hineingezogen: taxiert, quantifiziert, und alles, was man sagt und tut, wird auf den universalen Ego-Trip reduziert.
Längst gilt das nicht mehr nur für ökonomische Transaktionen, sondern auch für soziale Kommunikation, für Verhandlungen, für soziale Netzwerke, für Medien, für das »bad karma« digitaler Empörungswellen.
Die leicht paranoide Welt des gegenseitigen Unterstellens, Irreführens, Misstrauens ist jedenfalls nicht kleiner geworden in den letzten Jahren, sondern wurde fast zu einer Art Wachstumshormon der neuen Informationsökonomie – und all ihrer Überwachungs-, Trackings- und Analysetools.
Es ist deshalb kein übertriebenes Pathos, wenn man mit Manuel Castells sagt, dass etwas »entfesselt« wurde.
Diese »Entfesselung« war möglich, weil man am 9. November 1989 nicht gut genug aufgepasst hat. Es stimmt: Der Kommunismus war zu Ende. Was aber war eigentlich mit jenen westlich-kapitalistischen Theorien, deren Entstehen und deren Weltsicht nur mit der Existenz des Kommunismus zu erklären war? Wieso kam binnen Kurzem und entgegen den Prognosen die soziale Marktwirtschaft so sehr durch ein Gesellschaftsmodell unter Druck, das sich »Neoliberalismus« nannte?
Man hatte vergessen, dass die Radikalität von Nummer 2, all die Formeln über Egoismus und Nutzenoptimierung und all die Behauptungen über die fast göttliche Allwissenheit des Marktes, die zwischen 1950 und 1989 entstanden, selbst Teil einer ideologischen Kriegsführung gewesen waren. Sie waren immer auch der Versuch, die kommunistische Doktrin zu widerlegen.
Selbst erzkonservative Ökonomen waren sich, wie S. M. Amadae gezeigt hat, in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nicht sicher, ob das Moskauer Modell nicht funktionieren könnte. In der Sowjetunion war eine Macht am Werk, die an Planung glaubte und daran (zumindest auf dem Papier), dass das höhere Ziel die egoistischen Interessen des Einzelnen nicht nur übertrifft, sondern sie geradezu auslöscht. Und sie hatte Sputnik ins All geschossen und die Atombombe nachgebaut. Es war alles andere als sicher, dass das planwirtschaftliche Experiment scheitern würde. Es war ebenso wenig klar, ob das westliche System siegen würde. Die These, dass der Markt die Wahrheitsmaschine ist und für ein letztlich harmonisches Gleichgewicht sorgt, weil jeder Marktteilnehmer immer nur seinen eigenen Interessen folgt, war nie »bewiesen« worden. Wer sollte das wirklich wissen?
Es gab auch ideologische Bedenken gegen ein Europa, das zwei schreckliche Kollektivismen ausgebrütet hatte. Alarmierend schien auch, dass im europäischen Westen »unwissenschaftliche« Überzeugungen von Solidarität, Kooperation und Selbstlosigkeit die Menschen anzogen. Auch das galt den RAND -Ökonomen und ihren Kollegen aus Chicago als verdächtig. Selbst Ludwig Erhard musste sich in den Fünfzigerjahren dafür rechtfertigen, dass er seiner Wirtschaftsordnung das gefährliche Adjektiv »sozial« verpasste.
Die Ur-Motivation hinter dem verabsolutierten Egoismus war immer auch strategisch: mit der ganzen Wucht einer Wissenschaft zu beweisen, dass der Mensch ganz anders tickte, als es der ideologische Gegner behauptete.
Und dann, nach Jahrzehnten, war der Spieler aus Moskau pleite. Welch ein Sieg, jubelten die militärischen Hyper-Pokerspieler, als am 9. November
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