Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
sich in einem einzigen Jahrzehnt die Zahl der Physikstudenten verdreifacht. 76
Wer heute über den Lebensstil und den astronomischen Zahlenwahn der Wall-Street-Physik den Kopf schüttelt, die Männ lichkeitsrituale, die Brunftschreie, anhand deren man registrieren kann, dass Trader ihr »Killing« gemacht haben, wer in den später bekannt gewordenen E-Mails von Investmentbanken liest, wie man dort unter Umständen ganze Volkswirtschaften über die Klinge springen ließ, der konnte diese Verhaltensweisen für Pathologien des »Tiers im Manne« halten: So ist er der Mensch, wenn er ganz bei sich selbst ist.
Das Gegenteil ist aber der Fall. Es sind exakt die Verhaltensweisen, die in den Fünfzigerjahren – vor allem unter amerikanischen Physikern, Militärs und Ökonomen – synthetisch produziert worden sind. Deshalb tauchen jetzt wieder Personen und Konflikte auf, von denen man annehmen könnte, die seien längst vergessen und in den verlassenen Bunkern des Kalten Kriegs versiegelt. Der Kalte Krieg ist aber nicht vorbei, nur das Theatre of War , der Kriegsschauplatz, hat gewechselt.
Es ging im Kalten Krieg um das Leben von Menschen, aber da der Atomkrieg glücklicherweise nie ausbrach, entwickelte sich in den egoistischen Logiken, wie Paul Edwards mit einer Fülle von Beispielen belegt, schon in den damaligen Thinktanks der gleiche Größenwahn für Zahlen und die gleiche Ungewöhnlichkeit des Verhaltens.
Keiner hat dies besser verbildlicht als der Regisseur Stanley Kubrick, dessen »Dr. Seltsam« die Psychologie der Epoche präziser verkörpert als jedes Geschichtsbuch.
Der berüchtigt-geniale Physiker Herman Kahn beispielsweise, ein authentisches Vorbild für Dr. Seltsam und ein prominenter Angestellter von RAND , bereiste 1959 die USA und hielt vor Tausenden von begeisterten Menschen Vorträge über die Ökonomie des thermonuklearen Krieges, die aus heutiger Sicht ohne jede Übertreibung als geisteskrank gelten würden – wenn sie nicht genau der heutigen Risikoberechnung an der Wall Street entsprächen.
Beispielsweise rechnete Kahn seinem schaudernd-erregten Publikum vor, dass der größte anzunehmende Atomangriff der Sowjetunion alle 53 größeren Metropolen der USA vernichten würde. Das wäre schlimm, allerdings lebten 60 Prozent der Amerikaner überhaupt nicht in Metropolen. So Kahn: »Könnten Sie damit leben? Die Antwort lautet: Ja. Es ist die Art von Tragödie, die wir hinnehmen können. Es ist nicht wie der Blitz in London, bei dem Menschen die Hand eines verschütteten Mädchens oder ähnlich schreckliche Dinge sehen; Sie würden die Bilder nicht für den Rest Ihres Lebens mit sich herumtragen. Die Menschen in den Zielgebieten wären ausgerottet. Sie würden die Toten aber nicht sehen, verstehen Sie? Es wäre nicht vor Ihrer Haustür. Sie würden hören, dass New York zerstört worden ist, aber Sie wären ja in Princeton …« 77
Es ist schwer zu sagen, was an Kahns öffentlichen Auftritten selbst wiederum ein Spiel im Spiel war, ein Bluff an die Adresse der Sowjets, um zu signalisieren, dass man bereit war, Millionen von Menschen zu opfern. Aber das Spiel bestand ja gerade darin, dass die andere Seite nur wissen sollte, dass man wusste, dass sie weiß, dass man über Leichen gehen würde.
Und da nichts bedeutete, was es meinte, hatte Kahn ohne Zweifel auch noch einen anderen Grund für sein »disaster-movie«. Die RAND Corporation sucht nach neuen Einnahmequellen und bot sich der amerikanischen Regierung an, Stadtplanung und Dezentralisierung nach kybernetischen Modellen zu entwickeln. 78
Die einzigartige Mischung aus schier unbegrenzten Geldmitteln, computergesteuerter Datenberechnung, Spieltheorie und der Atombombe schuf offenbar auch jene emotionalen und sexualisierten Allmachtsfantasien, die später genauso in eben jenen Insiderberichten von der Wall Street auftauchen.
Einmal trafen sich die RAND -Leute und die Generäle zu einem Geheimtreffen, um zu besprechen, was geschehen würde, wenn die Sowjetunion Westeuropa mit ausschließlich konventionellen Waffen angreifen würde. Der Plan des Strategischen Luftkommandos sah vor, in diesem Fall jede vorhandene Atombombe auf alle Ziele in Russland und China abzufeuern, was schätzungsweise 285 Millionen Menschen das Leben gekostet hätte. »Meine Herren«, sagte Kahn unter dem Lachen der Generäle, »Sie haben keinen Kriegsplan, Sie haben einen Kriegs-Orgasmus.« 79
Es war ebenfalls Kahn, der sich in seinem Bestseller »Der thermonukleare
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