Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
Vom Netzwerk:
unterscheiden, die im Echtzeithandel bei Hedgefonds und bei Derivaten zum Einsatz kommen.
    »Der Verkauf von Anzeigen generiert nicht nur Profit; er generiert außerdem Ströme von Daten über den Geschmack und die Angewohnheiten des Users. Daten, die Google dann siebt und verarbeitet, um zukünftiges Konsumentenverhalten vorherzusagen, Produkte zu verbessern und mehr Anzeigen zu verkaufen. Dies sind das Herz und die Seele von Googlenomics. Es ist ein System konstanter Selbstanalyse: eine datengetriebene Rückkoppelungsschleife, die nicht nur Googles Zukunft ist, sondern auch die Zukunft von jedermann, der online Geschäfte macht.« 102
    Und die Zukunft von jedermann, der in der modernen Gesellschaft kommuniziert. Es stimmt, die Taschenrechner haben uns das Kopfrechnen abgenommen. Aber die sich daran anschließende Kulturkritik lief in die Irre. Indem sie uns das Rechnen abgenommen haben, war es nicht schwerer, 1 + 1 auszurechnen, als die Black-Scholes-Formel.
    Marcel Mauss schrieb schon Mitte der Zwanzigerjahre hellsichtig: »Der homo oeconomicus steht nicht hinter uns, sondern vor uns – wie der moralische Mensch, der pflichtbewusste Mensch, der wissenschaftliche Mensch und der vernünftige Mensch. Lange Zeit war der Mensch etwas anderes; und es ist noch nicht sehr lange her, seit er eine Maschine geworden ist – und gar eine Rechenmaschine.« Wahlen, Meinungsbildung, Politik, selbst die konstitutionelle Verfassung westlicher Demokratien, all das steht davor, in automatisierte Märkte verwandelt zu werden: von null auf mehrere Milliarden Teilnehmer. Es verändert sich die Konsistenz des individuellen Lebens, das, beraubt von Identität und Lebenslauf, von Nummer 2 gekapert wird wie ein Stück Software von einem Computervirus.
    Der Blick auf die Krise der Finanzmärkte ist deshalb für uns kein Blick in das Portemonnaie oder in die Börsensendungen im Fernsehen; wer dort hinschaut, wo man nichts anderes tut, als die Zukunft mithilfe von Automaten in Geld zu verwandeln, wirft einen Blick in die Zukunft automatisierter Märkte, und das heißt der automatisierten Gesellschaft überhaupt.
    Wer Gespenster sehen will, kann Geisterbahn fahren, aber wenn ein Gespenst am helllichten Tag erscheint und von allen gesehen wird, beginnt die Sache interessant zu werden.
    Es besteht wenig Hoffnung, dass der Respekt vor Nummer 2 eingetauscht wird gegen den Respekt vor Lebenserzählungen, die nicht auf das 1 + 1 eines angeblich genetisch in uns einprogrammierten Egoismus reduziert werden können. Und wenig Hoffnung, dass sich in die Gesichter der vorwiegend amerikanischen Experten und der mathematischen Prognostiker, die das Wort Sozialstaat nur noch als Schuld in ihren Büchern führen, etwas anderes malt als Amüsement und leichte Verachtung, wenn man ihnen literarische Monster entgegenhält.
    Unterdessen produzieren diejenigen, die ihre auf Formeln reduzierte Rationalität des Menschen für alle anderen zur Vorschrift gemacht haben – und es sind, wie die Dinge stehen, die einflussreichsten Repräsentanten der ökonomischen Zunft –, ein schlichtweg bizarres Schauspiel der Irrationalität.
    Unter dem Eindruck der Krise veröffentlichte der Ökonom Paul de Grauwe einen selbstkritischen Beitrag, in dem er den rationalen Egoismus des gängigen ökonomischen Agenten in Zweifel zog: »Weil alle dieselbe ›Wahrheit‹ verstehen, handeln alle in derselben Weise. Man muss also, um die Unwägbarkeiten der Welt zu modellieren, nur das Verhalten eines einzigen Agenten (›der repräsentative Konsument‹ und der ›repräsentative Produzent‹) modellieren. Selten wurde so eine verrückte Idee von so vielen Akademikern ernst genommen.« 103
    Das war noch milde formuliert, denn de Grauwe stellt keine weitergehenden Fragen nach Rolle und Moral von Nummer 2. Doch bereits am nächsten Tag veröffentlichte ein anderer Ökonomieprofessor an gleicher Stelle eine Antwort, die bewies, dass de Grauwe völlig falsch lag. Und wiederum ein paar Wochen später quittierte ein weiterer Artikel diesen Schlagabtausch mit der Bemerkung: »Professor Wickens zeigte, das Mr. de Grauwe falsch lag, was beweist, dass Mr. Grauwe tatsächlich richtig lag.« 104
    Wer selbst als Agent im realen Leben aus einer Erzählung von Kafka entsprungen sein könnte, dessen Lächeln könnte in der Tat verfrüht sein. Vielleicht werden Literatur und Kunst wieder eine Rolle dabei spielen können, ein paar Einzelne an die Unberechenbarkeit des Menschen zu erinnern. Zwei Autoren

Weitere Kostenlose Bücher