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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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deutet die Fiktion in das reale Wirtschaftsleben um: Die Tatsache, dass damals in London unter dem Dach der Bank of England sowohl die Notenbank als auch ihr Zwilling, eine Geschäftsbank, residierte – also zwei Organismen, die auf dem Papier nichts voneinander wissen und nicht miteinander kommunizieren durften, die eine ewig und staatstragend, die andere irdisch und profitorientiert –, hatte im Zuge einer grassierenden Panik die erhebliche Befürchtung ausgelöst, dass beide überrannt werden könnten, weil niemand da war, der die Rolle des rationalen Dritten innehatte.
    Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts stand die nächste Panik an, und die Fülle an bankenkritischer Literatur, die damals auch von englischen Konservativen veröffentlicht wurde, könnte dem Jahre 2012 alle Ehre machen. Attackiert wurde die These vom »Kreislauf« der Ökonomie, bei dem Banker und nicht mehr das produzierende Gewerbe »Geld in alle Arterien von Handel und Gewerbe« schleusen. Sätze wie »Das Lebensblut des Handels ist der Kredit« führten damals angesichts der Verschuldungsgrade zu der immer panischer werdenden Frage, was demnach post mortem geschehen würde, zum Beispiel im Falle eines Crashs.
    Die Bank of England war die Antwort auf alle Zweifel, denn sie assimilierte in ihrem »unsterblichen« Körper »zwei Drittel des Blutes, das nicht mehr in den Venen toter Banken fließt«.
    Und diese Situation beschwor ein weiteres Monster herauf: Bram Stokers »Dracula«. Dessen Vampir-System ist wie ein Unternehmen aufgebaut, und im Buch will er ausdrücklich nach London, dem Finanzmittelpunkt der damaligen Welt, emigrieren. Er ist ein transsylvanischer Investor, der mit Kisten voller Devisen aus aller Welt reist, in London über einen beunruhigend großen und auf Kredit finanzierten Immobilienbesitz verfügt und die Rolle der »Bank von England« übernehmen möchte. Der ganze Roman, so hat Houston als Erste herausgefunden, ist durchwoben von Anspielungen auf Kredite, Verbriefungen, Konten, Schecks, Grundbesitz. Einmal, als der Graf mit einem Messer attackiert wird, fließt kein Blut, sondern ein »Strom von Gold«. Das ist es, was der Graf will und was ihm Van Helsing streitig macht: ein Monopol auf den Kreislauf.
    »Dracula« wurde von einem hochverschuldeten Mann geschrieben, in einem Jahrzehnt, in dem die Wirtschaftsteile der Zeitungen von »sensationellen Schrecken und herzerschütternden Ängsten« berichteten, für die kein Lebender einen Vergleich kannte. Zu einer Zeit, als eine Panik befürchtet wurde, die »die Vorherrschaft der britischen Kreditwürdigkeit« zerbrechen und die »sogenannten Finanzgenies in den Banken« verhöhnen würde.
    Als dann auch noch 1890 die ehrwürdige Barings-Bank fast pleiteging (auf die endgültige Pleite musste sie bekanntlich bis 1995 warten), erlebte England eine umfassende Bankenfusion. In etwas mehr als einem Jahrzehnt schrumpfte die Anzahl der Privatbanken von 250 auf ein Dutzend.
    Weder Mary Shelley noch Luis Stevenson oder Bram Stoker waren »links«, und die, die dem in Europa umgehenden Gespenst des Karl Marx hätten begegnen können, waren ebenfalls eher desinteressiert. Keiner dieser Autoren war ein Gegner von Banken an sich, geschweige denn des existierenden Wirtschaftssystems. Sie attackierten mit dem Gespür für das Kapital und die Macht der Einbildungskraft die ökonomischen Modelle, mit denen soziales Verhalten wie ein Naturgesetz bewertet, geregelt und kontrolliert wurden. Sie durchschauten diese Modelle als Fiktionen und »Maschinen«, die nicht nur Märkte beschrieben, sondern über die Reputation, die Leben und die Fairness von Menschen entschieden.
    Deshalb die Monster. Sie sind nicht nur literarische Symbole für Panik und Horror. Sie sind Anomalien des Systems. Im Roman werden sie durch Elektrizität oder chemische Reagenzien zum Leben erweckt. Unsere heutige Nummer 2 ist nicht von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zum Leben erweckt worden, sondern von Menschen, die sich für Realisten hielten. Sie setzten auf die Mathematik.
    Noch 1952 enthielten nur zwei Prozent der Artikel in der wichtigsten ökonomischen Fachzeitschrift der USA mathematische Formeln. Doch schon am Ende des Jahrhunderts, als der homo oeconomicus respektive Nummer 2 die Welt beherrschte, musste ein mächtiger Ökonom des Landes daran erinnern, dass es einmal Wirtschaft ohne Mathematik gab:
    »Jüngere Wirtschaftswissenschaftler werden es kaum glauben können, aber bis zur Mitte des

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