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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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Carpenter, einer der angesehensten Physiologen des 19. Jahrhunderts, entwickelte bereits das Bild des Menschen als Automaten, der durch elektrobiologischen Input von außen gefüttert wird. Ein Wesen also, »das (sozusagen) ein bloßer Denkautomat (»thinking automation«) ist, dessen gesamte Ideen durch äußere Einflüsterungen bestimmt werden«. 133 Offenbar war die Idee, klüger, stärker, wachsamer zu werden, schon hundert Jahre vor den ersten Simulationen des Militärs untrennbar mit einer Indoktrinationsmaschine verbunden.
    Was Babbage angeht, so musste alles, was der geniale Mathematiker plante, ebenfalls ein Jahrhundert warten. Die Welt versuchte es erst auf dem psychologischen Weg, der mit Séancen begann und dann in ein Zeitalter der Manipulation mündete, mit ihren ausgefeilten Mitteln der Indoktrination, Massensuggestion und »Propaganda«, kurz: den »geheimen Verführern«.
    Ende des 19. Jahrhunderts stand die Idee der »magnetischen Flüssigkeiten« an der Wiege der amerikanischen Werbeindustrie. Nunmehr wurde »Elektrizität«, wissenschaftlich begründet zum Beispiel vom Erfinder von Alka-Seltzer, in Pillenform angeboten, alles als Mittel zur Transformation des müden, alten Körpers.
    1925, nach den ersten erfolgreichen Experimenten mit Massensuggestion durch eine Mischung aus Spiritismus und Behaviorismus, stellte die größte Werbeagentur der Welt, A. J. Walter Thompson, in ihrem Jahrbuch klar, dass »Werbung eine nicht-moralische Kraft ist, wie Elektrizität, die beleuchtet und mit Stromschlägen töten kann«. 134
    Das war es, was das 20. vom 21. Jahrhundert unterscheiden würde: Heute hat man die Möglichkeit, jeden einzelnen Menschen in seinen Wünschen zu berechnen und zu steuern. Die Massenpsychologie, die damals in den Londoner Salons entstand, operierte mit »Kräften«, nicht mit Individuen.
    Doch es ist ein Unterschied, ob man Massen manipuliert oder den einzelnen Menschen in seinen Verhaltensweisen kalkuliert, einschätzt und, zum Beispiel mit auf ihn zugeschnittenen Werbe botschaften, auf ihn einwirkt. Es ist ein Unterschied, ob man Men schen mit Suggestionen von außen manipuliert oder ob man in ihre Köpfe eindringt und erfährt, was sie denken, verheimlichen und wünschen.
    Im ersten Fall kann man Massen steuern, im zweiten Fall kann man bei genügend Datenmaterial Spielregeln festlegen, die wie Naturgesetze wirken. Schon für Babbage war eine Technik interessant, die es ermöglichte, soziales Leben mit vollständiger Rationalität nach den Regeln des Spiels neu zu organisieren. Damals war die Zeit für einen egoistischen Doppelgänger des Menschen noch nicht reif. Vielleicht weil die Idee von einer Maschine, die Menschen zwingt, nicht nur ökonomisch zu arbeiten, sondern nach einer rein ökonomischen Rationalität zu denken, die Vorstellungskraft überstieg.
    Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, drückte sich in den Monstern aus, von Frankensteins Kreatur über Mr. Hyde bis hin zu Dracula, die die Träume der Epoche heimsuchten.
    Doch es entstand damals noch eine andere literarische Monstervariante, ein zivileres Wesen, das zwar aufseiten des Gesetzes stand, doch gleichwohl eine Art Ungeheuer war. Diese Ausgeburt von Recht und Gesetz schnüffelte Menschen nach, kombinierte Indizien aus einer scheinbar sinnlosen Masse von Informationen und war ständig dabei, Menschen (oder Tiere) zu überführen, die vorgaben, etwas zu sein, was sie nicht waren; Edgar Allan Poe nämlich modellierte sein Superhirn Dupont nach ihm. Sherlock Holmes, den Conan Doyle nur ein paar Fuß minuten von Babbages wirklichem Domizil entfernt wohnen ließ, ist, wie Hugh Kenner mutmaßt, wahrscheinlich nichts anderes als die Verkörperung von Babbages Differenzialmaschine. Und selbst Agatha Christies Hercule Poirot ist aus Babbages hyperrationalen Genen gebaut.
    Kombinieren, entschlüsseln, enttarnen, überführen und vollständig die Perspektive des anderen durch Beobachtung einnehmen – sobald der Mensch auch nur in die Nähe digitaler Technologien kommt, will er offenbar sofort in die Köpfe der anderen Menschen eindringen, sei es durch Detektive oder Algorithmen. Bei allen Menschen entdeckt man dann Türen, die in ihr Inneres führen, oder gläserne Schädeldecken wie die Automaten des großen Spielzeugautomatenerfinders Vaucanson. Und wer je die Lo gik der großen Detektive imitieren, wie Sherlock seine Umwelt entschlüsseln oder wie Computer-Erfinder Alan Turing einen Code knacken wollte, muss erkennen,

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