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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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Nutzenfunktionen, verschmelzen sollten.
    Doch es war zu früh für Nummer 2. Da anders als knapp hundert Jahre später niemand eine Atombombe konstruieren wollte und auch keine menschenbereinigte militärische Befehlsketten benötigte, interessierte der Plan seinerzeit die britische Regierung nur vorübergehend. Babbage beklagte, dass sich alle Welt nur für seine Tänzerin interessierte, nicht aber für die Differenzialmaschine. Er hatte in seiner Wohnung die Tänzerin in einem Raum untergebracht und die unfertige Rechenmaschine in einem anderen: Kaum einer seiner Besucher interessierte sich für die abstrakte Maschine, jeder wollte die Simulation eines menschlichen Automaten sehen. Dabei würde die Differenzialmaschine die Idee des Automaten überhaupt erst zu sich selbst bringen. Babbage konnte nicht wissen, dass heute, anderthalb Jahrhunderte später, im Zeitalter von »Big Data«, riesige Datensupermärkte, Speicherhallen und Industrien für menschliches Denken entstehen. Um so hellsichtiger war es, dass er seine Rechenmaschine eine »Fabrik« nannte.
    Bewegungen, Kräfte, Mechaniken des menschlichen Körpers in physikalische Formeln zu verwandeln war gut und schön; aber das Denken selbst über die Formeln einer Maschine zu reproduzieren und zu einem messbaren Gut zu machen – das war nicht nur schön, das war titanisch.
    Tatsächlich aber waren die Zeitgenossen Babbages sehr an einem menschlichen Automaten interessiert. Sie gingen nur einen sehr viel direkteren Weg. Babbage entging, dass in den viktorianischen Salons Londons später als in anderen Hauptstädten Europas der Geist Galvanis und vor allem Mesmers und seines »thierischen Magnetismus« das gleiche Ziel mit anderen Mitteln verfolgte. Es grassierte um 1851 die »mesmeric mania«, der Spleen, mithilfe der Körperenergie aus dem Menschen ein leben des Automatenwesen herzustellen, stark wie ein Dampfhammer, klug wie Newton und darüber hinaus sogar in der Lage, die Zukunft vorherzusagen (alles das, was wir heute bekommen haben, nur dass man damals nicht Formeln, sondern den Menschen selbst benutzte). 130
    Offenbar ändern sich die Träume der Menschen nie, sondern nur die Werkzeuge des Träumens. Séancen kamen damals in Mode, in denen der Mesmerist zunächst seinem Gegenüber stundenlang in die Augen starrte, die Hände nahe an den Körper des anderen bewegte, um Wärmefelder zu erzeugen, bis in einer Atmosphäre absoluter Ruhe und gegenseitigen Anstarrens im Zwielicht der Zustand eintrat, den später die Militärcrews der USA erlebten, die von ihren Radarbildschirmen angestarrt wurden: die »Trance« oder das »Koma«.
    Bei diesen Séancen hatten in Trance Dienstmädchen (es handelte sich bei den Probanden meist um Frauen, meist solche, die sich als Dienstboten nicht wehren konnten) das Gefühl, tonnenschwere Gewichte heben zu können, oder sie zeigten plötzlich geistige Fähigkeiten, die manche schon zu utopischen Visionen von einem neuen Bildungssystem verleitete. 131
    Interessant wird, was sich in den dämmrigen Salons der Londo ner City ereignete, wenn man es mit dem in Beziehung setzt, was sich ein paar Straßen weiter in der Wohnung von Charles Babbage tat. Alison Winter hat das in ihrer spannenden Geschichte über den Mesmerismus im Viktorianismus so beschrieben:
    »Wenn man bedenkt, dass Babbage selbst beklagte, dass jeder seine Tänzerin liebte, aber niemand sich für eine Differenzialmaschine interessierte, kann man schlussfolgern, dass der Mes merismus deshalb so zwingend erschien, weil er die hervorstechenden Merkmale eines tanzenden Automaten mit einer Denkmaschine kombinierte – und das alles im Körper eines Menschen. Er verwandelte eine Frau in eine Maschine und bewies, dass der mechanische Teil eines Menschen so wie die Differenzialmaschine in der Lage war, geistige Arbeit zu verrichten, ohne Willen und ohne Gedanken.« 132
    Man kann das als Generalprobe für das Drama unseres informationsökonomischen Jahrhunderts lesen, bei dem nur der Hauptdarsteller, der Computer, noch unpässlich, weil noch nicht erfunden ist. Die Träume sind die gleichen, nur das Medium oder das Werkzeug, das sie aus dem Script in die Wirklichkeit transportiert, ist noch nicht gefunden.
    Bevor Nummer 2 die Bühne betritt – der verdoppelte, aber gleichzeitig reduzierte Mensch, der dem wirklichen Menschen vormacht, wie man rechnet, Geschäfte abschließt und die Welt kalkuliert –, versucht man es immer und immer wieder mit Nummer 1.
    William Benjamin

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