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Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)

Titel: Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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sitzt.
    »Wenn der normale Kunde einen Aktienkurs sieht«, sagt einer, der diese Systeme baut, »ist es so, als schaue er auf einen Stern, der in Wahrheit seit Jahrtausenden erloschen ist.« 151 Doch zwischen den Taktschlägen dieser fast subatomaren Zeiteinheit leuchtet kein Licht. Die Takte sind erfüllt von Entscheidungen, Abwägungen, Urteilen, Präferenzen, die sich in Geld verwandeln – 1 Billion Bytes an einem einzigen Tag.
    Der Explosion der Datenmenge entspricht der Kollaps der Zeit. Innerhalb von vier Jahren hat sich in den USA die durchschnittliche Haltefrist von Aktien von zwei Monaten auf zweiundzwanzig Sekunden reduziert (in den Fünfzigerjahren betrug sie noch durchschnittlich vier Jahre). 152 Physikalisch bewegt sich das ökonomische Universum gleichsam rückwärts auf den Urknall zu.
    Schon die Lehman-Krise stand im Zeichen überkomplexer Finanzprodukte, deren Physik sogar Eingeweihten unverständlich war. Der Flash-Crash vom 6. Mai 2010, der den größten je an einem einzigen Tag erlittenen Kursverlust des Dow Jones verzeichnete und allen Expertisen zum Trotz bis heute unaufgeklärt ist; die mysteriösen Vorgänge beim Crash des Börsengangs der Aktienplattform BATS; die sekundenschnelle Geldvernichtung bei Knights Capital: das alles sind zuschnappende Fallen, und nur die Tatsache, dass sie sich glücklicherweise noch einmal öffneten und der Vorgang mehr oder minder unter den Teppich gekehrt wurde, ist der Grund, warum sie keine Spuren in den Köpfen hinterlassen haben.
    Im August 2012 verlor Knights Capital innerhalb einer halben Stunde fast eine Milliarde Dollar (und gewann 99 Prozent später ebenso unerklärlich wieder zurück) sowie 75 Prozent seines Börsenwerts durch rätselhafte Handelsaufträge, die der eigene Computer des Unternehmens erteilte. »Es war«, sagt der Wissenschaftshistoriker George Dyson, »als habe man gesehen, wie ein Mensch totgefahren wird, und plötzlich steht er wieder auf und geht weg.« 153
    Bereits im Februar des gleichen Jahres hatte der Physiker Neil Johnson vor einem Kollaps des gesamten Systems gewarnt, der durch einen »globalen Krieg zwischen rivalisierenden Computer-Algorithmen« ausgelöst werden könnte. Der Markt, so Johnson, sei ein See voller Piranhas, die entweder große Beute jagen, die sogenannten Walfische, hinter denen sich riesige institutionelle Fonds verbargen, oder sich, in Ermangelung anderer Nahrung, gegenseitig auffressen.
    In allen digitalen Systemen, in denen Nummer 2 installiert wird, von Finanzplätzen bis Amazon, ist er davon besessen, die Spielzüge der anderen Seite vorauszusehen, zu reproduzieren und mithilfe des Nash-Gleichgewichts zu beantworten. In den Finanzalgorithmen aber, wo es, wie beim Flash-Crash sichtbar wurde, um minimale Gewinnmargen bei gigantischen Umsätzen ging, handelte Nummer 2 nicht mehr im Markt, er war der Markt.
    Hätte es sich um ein politisches System gehandelt, könnte man es nur mit einer permanenten Kubakrise vergleichen. Schon die kleinsten Bestrafungen, der kleinste Schmerz in den »Verhandlungen«, die geringste Abweichung vom absoluten egoistischen Selbstinteresse können das Monster entfesseln. Diese »algorithmische Tragödie des Gemeinwohls, in dem alle Spieler, konsequent nur in ihrem eigenen Interesse handelnd einen systemisch lebensgefährlichen Markt hervorbrachten« hatte die Welt an den Rand des Systemversagens gebracht. 154
    Der wahre Schwarm in einer Welt, in der der Markt die Wahrheit ist, ist nicht die kollektive Intelligenz. Es sind Millionen von Piranhas, die unsere Absichten, Ziele und Wünsche jagen. In einer Welt, die sich beschönigend »Wissensökonomie« nennt, ist jede Frage, jede Antwort, jeder Kauf oder Verkauf eine Aussage, die mehr über einen verraten könnte, als einem lieb ist.
    Wie immer sind die Finanzplätze auch hier Pioniere: Inner halb weniger Jahre explodierte der Anteil von Transaktionen in den »Dark Pools«, jenen schwarzen Gewässern – in Wahrheit nichts anderes als unkontrollierte Börsenplätze –, in die sich Investoren einst vor Futterräubern flüchteten. Ein institutioneller Fonds, dessen Algorithmen beschließen, in großem Umfang Aktien zu kaufen oder zu verkaufen, verändert sofort den Preis. Wer das in Bruchteilen von Sekunden voraussieht, kann gute Geschäfte machen.
    Es gibt Algorithmen, die die Walfische anfüttern, also selbst in kleinen Dosen mitbieten, und damit die Agenten der anderen Seite in eine nanosekundenschnelle Spirale von steigenden

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