Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
Maynard Smith bemerkte, und das Geschick, die Schwächen anderer auszubeuten. 143
An diesem Punkt unserer Erzählung würde ich den Leser gern bitten, sich noch einmal kurz umzudrehen, um zu sehen, wie sich gerade langsam eine Hintertür in seinem Rücken zu öffnen beginnt. Es ist die Tür, durch die Nummer 2 in sein Zimmer hineinzuschlüpfen versucht. Nicht mehr lange, und es wird wie in einer Komödie ein Streit darüber ausbrechen, wer die wirkliche Nummer 1 ist, Sie oder er. Aber während man noch darüber streitet, ist andernorts die Entscheidung längst gefallen: Ihr seid eins.
Wie ein entfernter Cousin, der zu Besuch kommt, einfach nicht mehr gehen will und nach und nach die Kontrolle über den ganzen Haushalt übernimmt, verwandelte Nummer 2 das »digitale Du« in sein eigenes monströses Ich. »Ich bin dein Verwandter«, sagt er. Und die Soziobiologie mit ihrer Behauptung vom »egoistischen Gen« sagt: Er hat die gleichen Gene wie du.
»Leute fühlen sich offenbar ›verkleinert‹«, schreibt Binmore, »wenn man sagt, dass sie ›nicht besser‹ als Roboter sind – so wie die Bürger im Viktorianischen Zeitalter ihre Würde bedroht sahen, als sie erfuhren, dass die Affen ihre Verwandten sind … Die Angst, dass die Gesellschaft auseinanderfallen wird, wenn die Leute ihre wahre Natur kennenlernen, ist absurd.« 144
Wenige haben die Verschmelzung biologischer und ökonomischer Theorien und das Entstehen dieser neuen ideologischen Maschine deutlicher erkannt als der amerikanische Biologe Stephen Jay Gould. Er griff Dennett dafür an, die Wunder der Natur ausschließlich durch die Rechenleistung egoistischer Algorithmen erklären zu wollen. Gould sprach hier, im Jahre 1997, scheinbar über Biologie, aber er hätte genauso gut über die Finanzmärkte des Jahres 2007 reden können. Denn er erinnerte schlicht daran, dass unerwartete Ereignisse alles verändern können.
»Ist die Diversität der Arten nicht mehr als die Rechenleistung natürlicher Selektion? Ich hingegen staune über die Möglichkeit, dass ein Meteor die Dinosaurier ausradierte und den Säugetieren eine Chance gab. Wenn dieses zufällige Ereignis nicht geschehen wäre … wären wir nicht vorhanden, um uns überhaupt über irgendetwas zu wundern.« 145
Ob es ein Meteor ist, der die Dinosaurier vernichtete, oder der »Schwarze Schwan«, das unerwartete Ereignis, das Finanzmärkte auslöschen kann – sie werden in einer Welt, in der Nummer 2 zum Naturgesetz geworden ist, die ständigen Begleiter dieser Gesellschaft sein. Der dazugehörige Fachbegriff lautet »unbeabsichtigte Konsequenzen« – und man sollte ihn sich vielleicht merken, wenn ein Facebook-Eintrag aus der Vergangenheit zum Beispiel in die Hände eines Kreditermittlers fallen sollte oder die Börse mal wieder in immer engeren Zeitabständen verrückte Informationen produziert.
»Das Gesetz der unbeabsichtigten Konsequenzen«, so erklärt es der Statistikprofessor Andrew Gelman, »zeigt, was geschieht, wenn ein einfaches System ein komplexes System zu regulieren versucht.« 146 Genauso reguliert Nummer 2 in seiner ökonomischen Engstirnigkeit den Menschen aus Fleisch und Blut.
Menschen, das hat sich seit den ersten Experimenten mit den Sekretärinnen bei RAND immer wieder herausgestellt, handeln in der Regel nicht so, wie es die Theorie vorhersagt. Erziehung, Moral, Überzeugung – sie unterlaufen oft, aus welchem Grund auch immer, die egoistische Prämisse. Doch je entgrenzter der Markt wird, auf dem Nummer 2 das Sagen hat, je sichtbarer wird, dass alles zum Markt wird und man in der modernen Informationsökonomie sein eigenes Ich vom Lebenslauf bis hin zum sozialen Netzwerk wie ein Produkt vermarkten, ja, in den zitierten Worten Philip Mirowskis, sogar zum »Manager seines eigenen Ichs« werden muss, desto höher der Preis, den man für den eigenen Widerstand zahlen muss.
Im Leben schlägt kein Meteor ein, und auch der Schwarze Schwan segelt nicht vorbei. Die Sache ist unauffälliger und deshalb gefährlicher. Wo ein einziges falsches Signal (ein falscher Tweet, ein verräterisches Gefühl in einer Mail) ausreichen kann, das ganze Leben zu zerstören, und die Signale unseres Lebens gleichzeitig digital ständig aufgefangen, gespeichert, ausgewertet oder verkauft werden, beginnt eine Gesellschaft den Kalten Krieg mit sich selbst zu führen. Sie ist zunehmend gezwungen, in zwei Welten zu leben: der von Nummer 2 und der eigenen – eine Schizophrenie, die permanent
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