Ego: Das Spiel des Lebens (German Edition)
Mindestlohn beispielsweise), die Art, wie nicht nur mit dem griechischen Plebiszit umgegangen, sondern den Griechen die Verschiebung ihrer Wahlen mit Rücksicht auf »Märkte« nahegelegt wurde – das alles sind die ersten Babyschreie eines neuen Informations-Markt-Staats.
Es handelt sich hierbei nicht um isolierte Ausnahmeerscheinungen, sie sind vielmehr das Ergebnis der Ausbreitung von Nummer 2 in die Welt des Sozialen und der Politik. Erst wenn der Staat (oder was von ihm übrig blieb) durch das Plebiszit der Konsumenten seine jeweilige Wahrheit aus dem Computer des Marktes generiert, ist er dort, wo er nach Meinung eines anderen frühen und mit unserer Geschichte tief verbundenen RAND -Strategen sein sollte. 180
Das »Unmöglichkeitstheorem« des übrigens sich »links« verstehenden Wirtschaftsnobelpreisträgers Kenneth Arrow bewies mathematisch, dass die Wünsche aller Marktteilnehmer nicht in einer Art wirklichkeitsgetreuer Volonté générale zusammengefasst werden können. Das hieß aber auch: Wahlen sind, anders als Märkte, kein Mittel, um die Summe individueller Wünsche auszudrücken.
Philip Bobbitt prognostizierte einen Staat, der nicht mehr auf Wahlentscheidungen, die relativ selten erfolgen, sondern »auf sich ständig wandelnde und ständig überwachte Konsumentenwünsche« reagiert. 181 Schon aus diesem Grund muss er unablässig »Transparenz« produzieren, um seine Teilnehmer mit dem notwendigen Wissen zu versorgen und sie vor Schaden zu bewahren. Dazu muss er freilich in die Köpfe der Marktteilnehmer – früher Bürger – schauen können. Denn der Informations-Markt-Staat muss permanent Voraussagen über alle Szenarien einer möglichen Zukunft treffen, »um Bedrohungen vorauszusagen und auszuschließen«. Er ist eine Risikoeinpreisungsmaschine und damit genau das, was ein moderner Aktienmarkt ist.
Sätze wie der folgende über die Notwendigkeit der Verhaltensvoraussagen könnten ebenso gut von einem Finanzmarktanalysten wie vom Betreiber eines sozialen Netzwerks stammen: »Niemals zuvor mussten Regierungen sich so sehr auf Spekulationen über die Zukunft verlassen, weil das Ausbleiben einer rechtzeitigen Reaktion unwiderrufliche Konsequenzen hätte.«
Soziale Netzwerke sind ausgestattet mit der Macht der Massen, automatisierte Finanzmärkte mit der Macht des Geldes, der globale Informations-Markt-Staat als nun Dritter im Bunde mit der Macht militärischer und legislativer Gewalt. Mit der ganzen Autorität des Ex-Mitglieds des Nationalen Sicherheitsrats ist Bobbitts wichtigste Unterscheidung die zwischen nach richtendienstlichen, also informationspolitischen, »Produzenten« und »Konsumenten« (»intelligence producers and consumers«). Jeder muss gleichzeitig als Informationsproduzent und Informationskonsument ausgewertet werden, und so schließt sich der Kreis: Dem Menschen widerfährt als Bürger, Stellenbewerber, Tourist genau das, was jedem widerfährt, der heute im Netz liest und zum Zweck der Verhaltensvoraussage gelesen wird.
Der Informations-Markt-Staat spricht gerne in fremden Zun gen und am liebsten in denen seiner idealistischen Feinde. So fordern Bobbitt und andere ein digitales Paralleluniversum für die Geheimdienste und Sicherheitsbehörden des neuen Staats. Und weil es zum Spiel gehört, immer etwas zu sagen, was etwas anderes bedeutet, benutzt er dafür Begriffe, die den Pionieren des Netzes heilig waren: »Open Source«, also Einblick in die Al gorithmen, eine globale Suchmaschine und »Creative Commons«, also die lizenzfreie Verwertung von Informationen.
So sollen die Informationen aller Geheimdienste der »freien« Welt zu einer einzigen Plattform zusammengebaut werden und nur für die zugänglich sein, die die Sicherheitsvoraussetzungen erfüllen. Zu den Forderungen der amerikanischen National Security Agency zählt ein »Google für Nachrichtendienste« und ein Open-Source-Direktorium, das Informationen im Netz sammelt, die nur kurz zugänglich sind, sowie vor allem eine einheitliche Jurisdiktion. Diese Plattform wird nicht nur die Überwachung von »Informations-Konsumenten« und »Informations-Produzenten« regeln, sondern diese Informationen auch bewerten wie eine Börse. Risikoinformationen, etwa ein Cyber-Angriff oder ein möglicher Terrorplan, werden heute mithilfe mathematischer Empfehlungen »ebenso gehedgt« (etwa durch Manipulation von Nachrichten, die an die Öffentlichkeit gegeben werden) wie Fonds. Börsen- und Facebook- und Geheimdienst-Algorithmen
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