Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Haar. Sie hatte nichts als weiße Spitzenunterwäsche am Leib, und im Schein der Gaslaterne sah ihre Haut so weich wie Wasser aus, die Rückenwirbel wie halb in einem Fluss versunkene Kiesel. Das Zimmer roch nach sauberem Linnen. Einen gedehnten Augenblick lang hatte Loeser das Gefühl, etwas Unwirkliches hinter Glas zu betrachten, wie ein Foto in einem alten Medaillon, aber dann sagte Frau Diski: »Das ist … Anneliese«, und das Mädchen drehte sich um, und Loeser schlug das Herz bis an die Ohren.
»Sie haben mich bestimmt falsch verstanden, Frau Diski«, stammelte er. »Ich habe vorhin nicht versucht, die Art Mädchen zu beschreiben, die ich haben wollte, ich wollte nur erklären, was mir heute Abend zugestoßen ist. Weil Sie mich darum gebeten hatten. Ich bin nicht … Ich will nicht …«
»Ich lasse euch jetzt allein«, sagte Frau Diski mit einem Lächeln. Sie schob Loeser sanft ins Zimmer, zog die Tür zu und schloss ihn in das Medaillon ein.
»Anneliese«, die nicht älter sein konnte als fünfzehn, sah aus wie Adele, aber sie sah nicht aus wie Adele mit fünfzehn, und sie sah auch nicht aus wie Adele mit achtzehn. Sie sah vielmehr genau so aus, wie Adele mit fünfzehn ausgesehen hätte, wenn sie da bereits schön gewesen wäre und nicht pummelig und unfertig. Sie besaß die Haare, die Augen, die Haut, die Knochen, aber sie besaß auch die Jugend – sie war die alte Adele, die er einst so gut gekannt hatte, kombiniert mit der neuen Adele, die ihm nur für ein paar Minuten begegnet war. Die Ähnlichkeit war unheimlich, aber es war eine Ähnlichkeit mit jemandem, den es nie gegeben hatte, eine Anleihe an einem Paralleluniversum.
Und dabei war ihm klar, dass dies keine Arbeit war, die man als Mädchen dieses Alters verrichten sollte. Selbst mit seinem eigenen verkümmerten moralischen Sensorium konnte er das erkennen. Er versuchte, ihren Körper nicht anzublicken, weil er wusste, wie schuldig er sich fühlen würde, wenn er eine Erektion bekäme. Natürlich hatte er schon früher blutjunge Dirnen an den Straßenecken gesehen, aber er hatte nicht geahnt, dass sich hier in den gemütlichen Zinnowitzer Teestuben welche finden ließen.
Loeser starrte das Mädchen an, und das Mädchen lächelte scheu zurück. Durch die Wand zu seiner Linken sickerten kaum hörbare Schreie synthetischer Lust.
Natürlich konnte er das nicht tun. Er konnte es nicht.
Oder doch?
2
BERLIN, 1933
Als Loeser aufwachte, merkte er sofort, dass es einen Fehler gegeben haben musste: Man hatte ihm den falschen Kater geschickt. Irgendwo in Nordrhodesien gab es einen Elefantenbullen, der, betrunken von gegorenen Früchten des Marulabaumes, ein Dorf verwüstet hatte und in einem Graben eingeschlafen und nun angenehm überrascht war, den Tagesanbruch mit nur leichten Kopfschmerzen zu erleben, wie man sie nach ein paar Flaschen guten Rotweins aus dem Keller der Fraunhofens hatte. Vielleicht konnte Loeser diese unangenehme kleine Verwechslung korrigieren lassen, wenn er sich an die richtige Behörde wandte, aber nur, wenn er dazu nicht den Kopf bewegen oder die Augen öffnen musste. Sonst würde der Schmerz ihn umbringen.
Als er zwanzig Minuten lang bewegungslos dagelegen und sich seine Strategie überlegt hatte, hörte er, wie seine Vermieterin die Treppe hinaufkam und einen Brief unter seiner Tür hindurchschob. Vermutlich von Achleitner, dafür musste man nicht aufstehen. Wenigstens schien es noch recht früh zu sein. Der längste Teil des Tages ließ sich noch kaputtmachen. Aber gerade da fielen ihm Adele und die Kellner aus dem Schwanneke wieder ein, und er beschloss weiterzuschlafen und fragte sich, ob es wohl möglich war, seinen Wecker so zu stellen, dass er ihn erst wecken würde, wenn jeder, den er kannte, tot war. Er dachte an das jüngste Theaterstück von Hecht über die Legende von Urashima Tar ō , den japanischen Fischer, der eine Schildkröte vor ein paar Kindern rettete, entdeckte, dass die Schildkröte die Tochter des Meeresdrachengottes Ry ū jin war, mit einem Besuch in dessen Palast belohnt wurde und bei seiner Rückkehr in sein Dorf entdeckte, dass dreihundert Jahre vergangen waren. Das wäre wirklich ein Segen.
Anfang 1933 mussten sich selbst die leichtsinnigsten und egozentrischsten Berliner – also auch Loeser – eingestehen, dass etwas Übles im Gange war. Auf den Partys war der Optimismus dem Grauen gewichen, das Kreischen dem Flüstern – die richtig guten Zeiten würden niemals wiederkommen, und an das zu
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