Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
denken, was da kommen mochte, war einfach zu schrecklich. Natürlich waren es anfangs nur harte Kerle aus der Arbeiterklasse gewesen, die diese Scheußlichkeit vorangetrieben hatten, aber nun hatten sich Angehörige aller Klassen und Generationen der hirnlosen Sache angeschlossen. Sie schienen zu glauben, die Tatsache, dass die zivilisierten Lösungen der zwanziger Jahre nicht mehr funktionierten, sei Grund genug, Hals über Kopf in die Gegenrichtung loszustürmen. Die meisten von Loesers Freunden waren sich einig, dass dringend etwas getan werden musste, aber niemand wusste, wie man etwas bekämpfen sollte, das schon so bestimmend geworden war. Einige sprachen sogar schon davon, Deutschland zu verlassen, zumindest bis das Land wieder bei Sinnen war. Die deutsche Geschichte stand an einem Wendepunkt.
Loeser wusste noch, wie er das erste Mal von dieser neuen Droge gehört hatte – Ketamin. Alle waren mit dem Zug auf ein Landgut nördlich der Ritterbrücke gefahren, das jemandes Eltern gehörte, die verreist waren. Es war eine jener Partys auf dem Land, auf denen man ständig das Gefühl hatte, von einem lebendigen Pferd oder einem toten Hirsch beobachtet zu werden – das ging so weit, dass man nach dem Pissen am Waschbecken herumtrödelte, nur um diesem seltsam beklemmenden Huftier-Panoptikum eine Zeit lang zu entkommen. Als Loeser irgendwann gegen Mitternacht nicht mehr Versteck spielen mochte, war er auf die Wiese hinter dem Haus spaziert, wo die Jazzkapelle aufspielte, in der Hoffnung, auf ein Mädchen zu treffen, mit dem er tanzen konnte. Stattdessen wäre er fast über einen Jungen gestolpert, der sich summend im Gras krümmte, und als er sich umblickte, sah er noch mehr davon. Dann entdeckte er Hildkraut, ging zu ihm und fragte ihn, ob es einen Senfgas-Angriff gegeben habe, weil schließlich nicht alle schon so betrunken sein konnten, und Hildkraut erklärte ihm, sie hätten ein auf dem Schwarzmarkt erworbenes Beruhigungsmittel für Pferde genommen, das Ketamin hieß, worauf Loeser das Gefühl beschlich, in eine Art Dada-Welt abgeglitten zu sein.
»Warum um Himmels willen sollte man denn ein Beruhigungsmittel für Pferde nehmen?«
»Weil es kein gutes Kokain mehr gibt.«
»Es gibt kein gutes Kokain mehr, und das ist die logische Alternative?«
»Klar. Dumme kleine Vorstadtkinder haben damit angefangen, dann kam es an die Kunstschulen, und jetzt nehmen es alle.«
Vanel flanierte auf der Suche nach einem Feuerzeug vorüber, und sie ignorierten ihn. »Wie wirkt es?«, fragte Loeser.
»Man fühlt sich, als würde man in einen endlosen, düsteren Tunnel gezogen. Oder, anders ausgedrückt, als würden einem die ganzen Lasten und Sorgen des Lebens von den Schultern genommen und durch ein einziges, viel schwereres Gewicht ersetzt. Man verliert die Kontrolle über seine Gliedmaßen und kann nicht mehr richtig sprechen. Wenn man genug nimmt, hält es stundenlang an, aber es kommt einem noch länger vor, weil die Zeit langsamer vergeht.« Hildkraut lächelte wehmütig. »Es ist großartig.« Zu ihren Füßen seufzte jemand leise wie in leidenschaftlicher Zustimmung. »Und Wagner klingt auf Ketamin ganz toll.«
»Entschuldige, dass ich so begriffsstutzig bin«, sagte Loeser, »aber sind hier alle wahnsinnig geworden? Ich kokse, weil es Spaß macht. Ich kokse, weil ich dann selbstsicher und gesprächig und voller Energie bin, oder wenigstens war das früher so, als das Koks noch nicht hauptsächlich aus Ziegelstaub bestand. Für den Fall, dass ich mich fühlen möchte, als würde ich stundenlang in einen endlosen, düsteren Tunnel gezogen, habe ich das Gesamtwerk von Schopenhauer zu Hause.«
»Na ja, wie dem auch sei, jedenfalls hat Brogmann angeblich mal so viel davon genommen, dass er ohnmächtig wurde, und dann ist er in einem Pferdestall aufgewacht, voller echter Pferde. Erklär mir das mal.«
Nachdem er noch ein paar Menschen auf der Feier befragt hatte, kam Loeser zu dem Schluss, dass er als letzter Mensch in ganz Deutschland von Ketamin gehört hatte. Aber niemand bot ihm etwas an. Und nach diesem Vorfall verwandelte sich das Berliner Nachtleben innerhalb von ein paar Monaten in seine eigene Parodie. Niemand schien mehr zu lachen oder zu tanzen oder zu knutschen, alle lagen nur noch lallend oder sabbernd herum, schachmatt gesetzt bis zum nächsten Morgen. Gewiss, die meisten seiner wichtigeren Freunde gaben sich nicht mit Ketamin ab – wozu auch, wo sie doch noch wussten, wie anständige Drogen wirkten.
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