Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
dass alles Menschliche von ihm abfiel, er sich weigerte, ihre zahlreichen Mängel einzugestehen, und am Ende buchstäblich von ihr verschlungen wurde. Was damit gesagt werden sollte, würde das Publikum selbst entscheiden müssen. Für Loeser ging es darum, wie die Politik, das Geschäftsleben und all die anderen bourgeoisen Einrichtungen dieser Art jeden, der sich auf sie einließ, in ein unerträgliches Arschloch verwandelten.
Zweiter Anlass zur Empörung: Beleidigung. Was viel schlimmer war. Der Zauberer von Venedig enthielt, anders als vorhergesagt, keine brutale Parodie seiner Person. Er enthielt auch keine unerwartet herzliche Huldigung. Er enthielt nicht einmal das unverfänglichste, zufälligste Abbild.
Es gab überhaupt keine Figur, die Loeser nachgebildet war.
Es gab Figuren, die erkennbar Achleitner, Blumstein, Brecht, Drabsfarben, Grosz, Heijenhoort, Klugweil, Ziesel und Zuckmayer nachgebildet waren. Es gab sogar eine Figur, die Brogmann ähnelte. Der zauberhafte Lavicini war selbstredend der Autor selbst, und hinter Anne Elisabeth schien sich Adele zu verbergen. Aber Loeser war nirgends zu finden. In einem Buch, das in ganz Europa als das skandalöseste, detaillierteste Dokument des Lebens der jungen Berliner Künstlerkreise gelesen wurde, das je das Licht der Welt erblickt hatte – ein Buch, das sich noch dazu explizit um einen Bühnenbildner drehte, Scheiße noch mal –, kam er nicht vor. In Der Zauberer von Venedig auftauchen hieß mit der Nachwelt ins Bett gehen, und alle außer Loeser durften mit der Nachwelt ins Bett gehen: Alles wieder wie bei Adele, nur dass die Nachwelt daran keine Schuld trug, weil die Nachwelt ausgerechnet von Rupert Rackenham auf den Strich geschickt worden war. Und natürlich konnte er sich über seine eigene Negierung nicht einmal beschweren, denn das wäre die einzige Reaktion, die ihn noch erbärmlicher aussehen lassen würde, als er es schon tat – außer vielleicht, wenn er seine gesamten Ersparnisse in die Produktion einer barocken Oper mit dem Titel Rupert Rackenham ist eine blöde Fotze stecken würde, Musik: J. Drabsfarben, Libretto: E. Loeser, wonach ihm wirklich sehr stark war, als er das ganze Buch überflogen hatte. Stattdessen machte er sich auf ins Romanische, und als er dort mit zwanzigminütiger Verspätung zu seiner Verabredung mit Ziesel eintraf, fiel sein Blick sofort auf Rupert Rackenham persönlich, der dort mit Klein Kaffee trank.
Das Romanische hatte noch immer seine separaten Abteilungen für Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, Regisseure, Filmproduzenten, Kunsthändler, Modedesigner, Marxisten, Philosophen, rechtslastige Journalisten, linkslastige Journalisten, Ärzte, Psychiater und den ganzen Rest, aber Ende der Zwanziger waren die territorialen Verhandlungen noch komplexer geworden, des Niedergangs von Dada und Expressionismus und des daraus resultierenden Machtvakuums wegen. Man hätte eine Art Versailles erwarten können – die eine Seite nahm sich ihr Westpreußen, die andere ihr Nordschleswig, wieder eine andere ihr Elsass-Lothringen und so weiter, aber der anfängliche Widerwille, an Tischen Platz zu nehmen, deren Decken noch vom Veralteten befleckt waren, wollte nicht recht weichen. Also wurden diese Plätze in den ersten Wochen ihrer Verfügbarkeit von der Sorte unbedeutender Emporkömmlinge eingenommen, die sonst mit einem Platz am Eingang hätten vorliebnehmen müssen und gern tiefer in das Café eindrangen, bis die wahren Gäste sich sagten, dass, nun, wenn schon irgendjemand dort sitzen musste, dann sicher nicht dieses Rudel streunender Hunde, und entschlossen vorrückten, wobei sie dem Oberrausschmeißer mit dem graumelierten Bart und dem Lippenpiercing rieten, diese Spätankömmlinge doch lieber gar nicht erst hereinzulassen. Fast das ganze vergangene Jahr über hatten Loeser, Klugweil und die anderen Neuen Expressionisten um die Rückeroberung jenes Teils der Terrasse gekämpft, der früher den Originalexpressionisten gehört hatte und dann an die Theaterkritiker weitergereicht worden war. Aber sie hatten alle nicht viel Erfolg – was ihnen fehlte, dachte Loeser oft, war ein starker Führer.
Rackenham und Klein befanden sich mitten in einem Gespräch über das Boxen, als man ihnen ein Exemplar von Der Zauberer von Venedig mit solcher Wucht auf den Tisch knallte, dass die Kaffeetassen auf ihren Untertellerchen zusammenzuckten. Die beiden Männer blickten auf. »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, sagte
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