Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
war.«
»Willst du mich veräppeln? Es war schrecklich. Einen Hahnrei in der Lehre hat sie mich genannt.«
»Aber du hast sie geküsst.«
»Wie bitte?«
»Du hast sie geküsst«, sagte Rackenham. »Ich war nicht dabei, aber du bist hinterher zu mir gekommen und hast es mir erzählt. Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen.«
»Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.«
»Das überrascht mich nicht. Deine Augen waren glasig wie Schiebefenster. Du musstest dich an deinem Weinglas festhalten, um nicht umzukippen.«
»Du willst mir wirklich erzählen, dass ich sie geküsst habe.«
»Ja.«
»Rackenham, wenn das ein Scherz sein soll, stopfe ich dir dieses Buch so tief in die Kehle, dass dein Zwölffingerdarm es mir mit Galle signiert.«
»Das ist kein Scherz. Du hast mir erzählt, dass du sie soeben geküsst hattest.«
Und dann fiel es Loeser wieder ein. Es stimmte wirklich.
»Du bist ein Hahnrei in der Lehre«, hatte Adele im Speisesaal der Fraunhofens gesagt.
»Und du bist ein Witz im Werden«, hatte Loeser erwidert.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich schätze, du hast noch drei Wochen, dann ist deine ›Flittchen auf Raubzug‹-Nummer aus der Mode, und die Leute reden wieder über etwas anderes. Dann gehst du aus dem Klatsch in die reine Signifikation über. Dein Name kommt nur noch auf, wenn jemand schnell ein bestimmtes Muster von sozialem Verhalten auf den Begriff bringen will. Du wirst lebende Kurzschrift für etwas von gestern. Ein Gespenst. Ein Standbild. Ein Witz.«
»Und wie genau kann ich diesem Schicksal entgehen?«
»Du darfst nicht mehr so durchschaubar sein. Du könntest zum Beispiel versuchen, einen Abend lang etwas ganz Altmodisches zu tun.«
»Klingt öde. Was bedeutet das?«
»Ich führe dich zum Essen aus, und es gibt keinen Absinth und kein Ketamin, und du darfst mit mir ins Bett gehen, weil ich klug und charmant bin und nicht, weil ich verrucht bin und ein markantes Kinn habe.«
»Wie langweilig. Wo würdest du mit mir hingehen?«
»Ins Borchardt.«
Adele lächelte und lüpfte eine Braue. »Wie wäre es mit dem Schwanneke?«
»Mach keine Witze.«
»Wenn wir ins Schwanneke gehen und du nett zum Kellner bist und ihm ein dickes Trinkgeld gibst, dann werde ich mich dazu herablassen, mit dir zu speisen.«
»Im Ernst?«
»Ja. Aber ich komme hinterher nicht mit zu dir. Das wäre nicht altmodisch genug.«
»Aber du könntest mich vielleicht küssen.«
»Möglicherweise.« Sie verzog das Gesicht. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Jetzt überlegst du dir den ganzen Abend, wie du mich so weit kriegst.«
»Wahrscheinlich.«
»Na gut, wenn wir es gleich hinter uns bringen, bist du nicht mehr so abgelenkt.« Adele stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf eine Art, die zugleich völlig leidenschaftslos und umwerfend kraftvoll war. »Dann also morgen um acht?«, sagte sie danach.
Loeser wollte antworten, aber ihm war, als würden sowohl seine Zunge als auch sein Schwanz den Rest ihrer Tage unter den Kriegszitterern in der Nervenheilanstalt zubringen müssen.
»Na ja, egal, ich gehe jetzt jedenfalls Sartre suchen«, sagte Adele. »Auch wenn wir morgen verabredet sind, kann ich heute Abend ja trotzdem mit ihm Bekanntschaft schließen. Einen schönen Abend noch.« Und weg war sie.
Als Loeser die Szene im Romanischen Café wieder einfiel, hätte er sich fast hinuntergebeugt und Rackenham geknutscht, aber dann erinnerte er sich daran, dass der Brite an seinem Sieg keinen Anteil gehabt hatte. Stattdessen nahm er einfach das Buch, entschuldigte sich für die Störung und setzte sich zu Ziesel.
»Dieter! Wie geht’s denn so?«, sagte er und erlaubte nahezu einem ganzen Phonem, Ziesels Mund zu entschlüpfen, bevor er ihm das Wort abschnitt: »Mir ist es wirklich scheißgut ergangen, da du schon fragst. Heute Abend gehe ich mit Adele Hitler essen. Mit Adele Hitler. Und gestern Abend hat sie mich geküsst.«
»Ach ja?«
»Schlafen will sie nicht mit mir, hat sie gesagt, aber he, wir kennen sie doch alle. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie danach meine Freundin wird. Ich werde die Widerspenstige zähmen. Du verstehst natürlich nichts davon, aber normalerweise hat es ein kleines Rüchlein, mit einer Frau auszugehen, die mit vielen anderen Männern geschlafen hat. ›Wenn eine Frau gut Schwanzlutschen kann, dann nur, weil sie viele Schwänze gelutscht hat. Das ist die ewige Tragödie des Mannes.‹ Hat irgendwer gesagt … bestimmt Goethe … Und manchmal
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