Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
Fabriktor warten und um Autogramme betteln.
Danach schlich er in seiner Wohnung umher wie von Gefängniswärtern verprügelt, ließ seinem Mund die Barmherzigkeit des Küchenwasserhahns zuteilwerden und öffnete dann den Brief, der tatsächlich von Achleitner stammte. Loeser hatte seinen besten Freund fast drei Monate lang nicht gesehen, seit er auf einer Kunstausstellung einen löwenhaften zweiundfünfzigjährigen Nazi-Adligen namens Buddensieg kennengelernt hatte, der Achleitner mit auf sein Schloss im Schwarzwald genommen hatte, wo er offenbar einer Art homosexueller Dauersause vorsaß. In seinen Briefen schwärmte Achleitner von dem Essen, dem Wein, den Zimmern, vom Land und vor allem den Jungs. Die Nazis, hatte er zuletzt geschrieben, »geben sich einer Art moralistisch-ästhetischem Trugschluss hin, demzufolge ein Mann, wenn er nur blond, blauäugig und kantig ist, auch tapfer, treu, klug und so weiter sein muss. Sie glauben wirklich, dass Tugend und Schönheit irgendwie in kausalem Zusammenhang stehen. Blöd, jawohl, aber nicht blöder als du, Egon Loeser. Wenn du ein Mädchen wie Adele Hitler mit einem hübschen unschuldigen Gesicht siehst, willst du da allen Ernstes behaupten, dass du es nicht für ein engelsgleiches Wesen hältst? Auch wenn das ungefähr so viel Sinn ergibt wie Astrologie. Schwule machen das natürlich auch, aber nicht so sehr, weil wir alle einmal Jungs gewesen sind und Jungs für uns niemals so geheimnisvoll sein werden wie für dich die Mädchen, da können wir uns ein wenig mehr Skepsis leisten. Oder nehmen wir nur ein beliebiges Märchen – Aschenputtel muss unbedingt schön sein, und ihre Schwestern müssen unbedingt hässlich sein, auch wenn die moralische Wirkung der Geschichte andersherum bestimmt größer wäre. Die Nazis haben im Grunde nicht mehr getan, als diesen romantischen Glauben an die körperliche Schönheit zum Kult zu erheben – das ist so kindisch, dass es fast schon wieder rührend ist. Als Ästheten verfügen sie nicht einmal über die Skrupellosigkeit eines Gilbert Osmond. Jedenfalls gibt es deshalb auf diesem Schloss mehr exquisite Jungs als in ganz Berlin. Heute Morgen hatte ich beim Aufwachen drei davon in meinem Bett. Ich bin völlig besoffen davon. Wenn ich auch daran denken muss, den alten Buddensieg nicht zu vernachlässigen, sonst wirft er mich am Ende raus.«
Was Loeser nicht in den Kopf wollte, war, dass Achleitner sich nicht langweilte. Mit Ausnahme von ein paar akzeptablen Kommunisten wie Hecht, der schlau genug war, einem nicht alle fünf Minuten mit Marx zu kommen, war jedes zahlende Mitglied einer politischen Partei eindeutig erschütternd geistlos. Selbst ein Schloss voller Briefmarkensammler oder Fussballfreunde wäre besser gewesen, die waren wenigstens nicht immer so selbstgerecht. Aber Achleitner behauptete steif und fest, er habe seit seiner Ankunft auf dem Sperma-Olymp kein Wort über Politik gehört. »Viel über Ernährung und Turnen und Sonnenbaden und viel über die untergegangene heilige Stadt Agartha und viele wirklich lahme Judenwitze, aber Gott sei Dank nichts über Versailles oder Arbeitslosigkeit oder Wahlrechtsreform. Die Zeitungen kommen ins Haus, aber keiner liest sie.«
Wie die meisten Menschen hatte Loeser, seit er vierzehn gewesen war, immer wieder geglaubt, dass er keine wahren Freunde hatte, und wie alle albernen, aus der Melancholie geborenen Verallgemeinerungen war auch diese herrlich trostreich, weil sie so schön den See der eigenen Verantwortung trockenlegte. Aber sich einzugestehen, dass es stimmen könnte, war eine ganz andere Sache. Ein paar Wochen lang hatte Loeser versucht, Achleitner zur Rückkehr nach Berlin zu überreden, aber er wusste, dass es zwecklos war. Kein Mensch würde das Paradies gegen ein Berlin aus Ketamin und bunten Bändern eintauschen. Und ohne Achleitner, wen gab es da noch? Ja, wenn Loeser eine Party besuchte, gab es immer Dutzende im Grunde austauschbarer Menschen, mit denen er sich betrunken amüsieren konnte. Aber wenn er am Morgen danach aufwachte und Gesellschaft für ein reuiges Frühstück brauchte, gab es eigentlich niemanden, den er anrufen konnte. Der Mensch, den er dieser Tage am häufigsten sah, war vermutlich Klugweil. Nicht lange nach dem Teleportationsunfall hatte Blumstein die beiden dazu gedrängt, sich bei einander zu entschuldigen, damit sie weiter an Lavicini arbeiten konnten, und sie kamen inzwischen besser miteinander aus als vor ihrem Zerwürfnis. Loeser hatte Klugweil
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