Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
sogar seine Einsamkeit anvertraut und ihn gefragt, ob er es für ein Zeichen der Einsiedlerkrankheit halte, dass er sich eines Nachmittags aus Zerstreuung laut bei einem Kaugummiautomaten auf einem U-Bahn-Steig bedankt hatte. Aber jetzt ging der Schauspieler, der im vergangenen Sommer endlich Vernunft angenommen hatte, was seine Beziehung zur langweiligen Gretel betraf, offenbar nicht mehr ans Telefon, also musste man vermuten, dass er ein neues Mädchen gefunden hatte, von dem niemand wissen sollte. Möglicherweise würde Loeser tatsächlich … Aber nein, der Gedanke war zu entsetzlich. Er würde einfach zu Hause frühstücken.
Nur dass es nach gründlicher Inaugenscheinnahme der Küche ganz danach aussah, als ob es in der Wohnung nichts Essbares mehr gäbe, weil er alles aufgegessen hatte, als er gestern Nacht von der Party zurückgekommen war. Eine oberflächliche kriminaltechnische Untersuchung ergab Hinweise auf die improvisierte Verfertigung von Marmeladenbrötchen unter Verwendung von rohem Kohl und Angostura-Bitter. Da die Resultate nicht mehr auffindbar waren, bestand kein Anlass zu der Vermutung, dass sie misslungen waren. Wenn er sein Experiment doch nur dokumentiert hätte!
Er würde also doch ausgehen müssen. Und er würde entweder allein ausgehen oder Ziesel anrufen müssen. Er wusste, dass Ziesel Zeit hatte. Ziesel hatte immer Zeit. In Berlin gab es Typhusbazillen, die gefragter waren als Ziesel.
Er ließ den Blick durch die Wohnung schweifen, auf der Suche nach Wegen, diesen Horror zu mildern. Auf seinem Schreibtisch befanden sich ein benutztes Weinglas, eine unbezahlte Schneiderrechnung, ein paar Notizen zu Lavicini, Berlin Alexanderplatz mit dem Lesezeichen auf der Seite 202 und der Entwurf eines Briefes an seine Großtante in Köln, der zwei Sätze weit gediehen war. Alle warfen sie flehentliche Blicke zurück.
Er rief Ziesel an.
»Ja, bitte?« Man hörte Geplapper im Hintergrund.
»Dieter. Hier ist Egon. Wir frühstücken zusammen im Romanischen.«
»Das geht nicht.«
»Wir sehen uns in etwa zwanzig Minuten.«
»Das geht nicht, Egon.«
»Wenn du vor mir da bist, bestell mir das große Rührei mit Schinken.«
»Tut mir wirklich leid, Egon, aber ich kann dir jetzt keine Gesellschaft leisten. Ich bin schon mitten beim Frühstücken. Ich habe ein paar Kumpel aus der Blaskapelle hier.«
»Wie bitte?«
»Zum Mittagessen hätte ich Zeit.«
Nach einer langen Pause sagte Loeser: »Du, Dieter Ziesel, bist zu beschäftigt, um mit mir, Egon Loeser, zu frühstücken.«
»Ja«, sagte Ziesel.
»Ich, Egon Loeser, soll jetzt so wild auf ein geselliges Beisammensein mit dir, Dieter Ziesel, sein, dass ich einfach zwei Stunden lang warte, bis du Zeit hast?«
»Wenn du es so ausdrücken möchtest«, sagte Ziesel.
»Das – das! – ist nun aus meinem Leben geworden.«
»So würde ich es nicht sagen«, sagte Ziesel.
Nach einer weiteren langen Pause sagte Loeser: »Gut, wir sehen uns um eins«, und legte auf.
Da er immer noch nicht willens war, sich der verwaisten Dinge auf dem Schreibtisch anzunehmen, fand Loeser, er könnte sich genauso gut anziehen und ins Lunis gehen, ein Antiquariat in der Ranekstraße neben einem Antiquitätengeschäft, in dessen Schaufenstern Ritterrüstungen Wache hielten wie militarisierte Mannequins. Es wäre sein siebter Besuch in zwei Wochen, und das elegante Mädchen an der Kasse bediente ihn mit immer größerem Überdruss; sie bildete sich inzwischen offenbar ein, dass er sich irgendwie in sie verguckt hatte, denn wer wirklich so unbedingt Der Zauberer von Venedig von Rupert Rackenham lesen wollte, der konnte sich einfach für 12 Mark ein druckfrisches Exemplar kaufen. Aber Loeser hätte lieber einen halben Liter ausgespuckten Zahnputzwassers getrunken, als dem Mann, der Adele Hitler als Erster gefickt hatte, auch nur zu einem einzigen Pfennig Tantiemen zu verhelfen, und er konnte sich das Buch nicht einfach leihen – obwohl es alle in der Straßenbahn zu besitzen schienen –, weil niemand erfahren sollte, wie dringend er das Ding lesen wollte. Rackenhams Roman war übereinstimmenden Berichten zufolge eine kaum verhüllte Skizze der experimentellen Berliner Theaterszene von zirka 1931, und da niemand Loeser bei seinen verdeckten Ermittlungen nach der Darstellung seiner Person hatte helfen wollen – selbst Brogmann war zu taktvoll gewesen, sich über ihn lustig zu machen –, konnte Loeser nur vermuten, dass sein fiktionaler Wiedergänger ein Golem aus Verleumdung
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