Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
verzog dabei das Gesicht, & dann sagte er: »Jude. Warum glaubst du, dass eine brave Bürgerin neben dir sitzen will?« Der Jude zuckte die Achseln & fragte die Frau, ob sie etwas dagegen habe. Die Frau schüttelte den Kopf. Da sagte der Nazi: »Jude. Sie schweigt, weil du sie einschüchterst. Wenn sie mir nicht laut und deutlich sagt, dass es ihr nichts ausmacht, neben einem dreckigen Juden zu sitzen, kann ich dir nicht erlauben, auf diesem Platz zu sitzen.« Der Jude wollte der Frau nicht das Leben schwer machen, also stand er auf & setzte sich um, neben einen Geschäftsmann. Der Nazi sagte: »Jude. Warum glaubst du, dass ein braver Bürger neben dir sitzen will?« Aber der Jude wollte sich nicht noch einmal zwingen lassen, sich umzusetzen, also blickte er den Geschäftsmann hilfesuchend an. Der Nazi sagte: »Mein Herr. Sie müssen sagen: ›Ich sitze gern neben einem dreckigen Juden.‹ Wenn Sie nicht genau diese Worte benutzen, muss ich annehmen, dass der Jude Sie einschüchtert & werde darauf bestehen, dass er sich einen anderen Platz sucht.« Der Geschäftsmann zögerte & senkte dann den Blick auf die Zeitung. Der Nazi sagte: »Jude. Entweder du suchst dir einen anderen Platz, oder ich nehme dich fest.« Also fragte der Jude, wo er sitzen dürfe, & der Nazi sagte: »Das weiß ich auch nicht. Möchte hier irgendjemand in der Straßenbahn neben einem dreckigen Juden wie dem da sitzen?« Ich hob die Hand.
Der Nazi wandte sich mir zu & sagte: »Sagen Sie es laut.« Ich sagte: »Ich bin gern bereit, neben diesem jüdischen Herrn zu sitzen.« Der Nazi sagte: »Kommt das daher, dass Sie selber Jude sind?« Ich sagte: »Ich bin jüdischen Glaubens, ja.« Also kam der Jude & setzte sich neben mich. Er bedankte sich nicht, & das wollte ich auch nicht. Ein paar Minuten lang herrschte in der Straßenbahn Schweigen – ein Schweigen, wie man es in einer Berliner Straßenbahn noch nie gehört hat! Und dann begann der Nazi den zweiten Akt seines Theaterstücks. Er sagte: »Merkt ihr zwei Juden nicht, dass euch das junge Paar gegenüber jetzt ansehen muss? Ihr sitzt genau vor ihnen.« Wir antworteten beide nicht, also fuhr der Nazi fort: »Warum glaubt ihr, dass zwei brave Bürger euch ansehen wollen?« Wieder antwortete keiner von uns. »Wenn sie mir nicht laut und deutlich sagen, dass ihnen der Anblick zweier dreckiger Juden nichts ausmacht, kann ich euch nicht erlauben, da sitzen zu bleiben.« Ich bin nicht zum ersten Mal so drangsaliert worden, Egon, und in dem Moment hat es mir gereicht. Ich bin aufgestanden und
Loeser zerknüllte den Brief und warf ihn in den Papierkorb. Seitenlang ging das so weiter, und er hatte wirklich Besseres zu tun. Das sah seinem früheren Mentor ähnlich, irgendeine lange, verworrene, unglaubwürdige Geschichte aus dem öffentlichen Nahverkehr zu erzählen, um Mitleid zu heischen – wie würdelos für einen Mann seines Alters. Er fing an, Achleitners Brief zu lesen.
Egon,
es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Ich bin jetzt wieder in Berlin, und Du würdest nicht glauben, wie hektisch es hier zugeht. Du hattest recht – mein langer Urlaub auf dem Schloss konnte nicht ewig währen (auch wenn er neun Zehntel der Ewigkeit zu währen schien). Wir sind aus dem Paradies vertrieben worden. Buddensieg wurde zurück in die Stadt berufen und hat darauf bestanden, dass wir alle mitkommen. Aber das ist in Ordnung, denn er hat mir eine Arbeit verschafft, mit der ich die Miete zahlen kann. Und das Folgende verrate ich Dir im Vertrauen, Egon, weil ich dem Ton Deines letzten Briefes entnehme, dass Du ein bisschen Aufmunterung brauchst, aber Hecht oder Gugelhupf oder Ophüls oder den anderen, die mit Dir da draußen sind, erzählst Du besser nichts davon: Ich muss Uniform tragen! Hast Du je etwas Lächerlicheres gehört? Aber wenigstens kann ich eine ruhige Kugel schieben – ein bisschen wie Du auf Deinem gemütlichen Posten in diesem Komitee, so hört es sich jedenfalls an. Oh, du rätst nie, wen ich gestern auf der Straße getroffen habe. Blumstein! Ja, der alte Langweiler treibt sich noch immer hier herum. Ich bin hinübergegangen, um Hallo zu sagen, aber als er die Uniform gesehen hat, wollte er mir nicht einmal in die Augen schauen. Wahrscheinlich wünscht er sich noch immer, die Tage der Novembergruppe wären nie vergangen. Nun, sie sind es. Wirklich. Also, wie steht es im goldenen Kalifornien? Hast Du Adele schon gefunden? Nein, das habe ich mir gedacht. Hoffentlich hast Du
Weitere Kostenlose Bücher