Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
19. Jahrhunderts zurückdenken. Es war jene Zeit, als der große, den ganzen Kontinent erfassende Umbruch von der landwirtschaftlichen zur industriellen Ära längst im Gange war, eine Zeit, in der allenthalben in Europa die Menschen begonnen hatten, sich in der Nachfolge der französischen Revolution gegen die Allmacht der Herrschenden zu wehren und sich freiheitliche, demokratische und rechtsstaatliche Strukturen zu erkämpfen.
Um die Mitte dieses Jahrhunderts gab es trotzdem den sogenannten Krimkrieg, in dessen Verlauf die daran beteiligten russischen, osmanischen, französischen und englischen Regierungen nicht davor zurückschreckten, für ihre aberwitzigen politisch-militärischen Machtziele rücksichtslos Zehntausende junger Männer in den Tod zu schicken. Der Lohn, der den wehrlosen Opfern als Nachruhm zuteil wurde, bestand aus dröhnenden Dichterballaden (wie der im englischsprachigen Raum bis heute gern zitierten Charge of the Light Brigade von Alfred, Lord Tennyson, die den hoffnungslosen Ansturm einer berittenen Brigade gegen das Abwehrfeuer der russischen Kanonen zum Vorbild für heldenhaften Todesmut verklärt). Gekrönt wurden solche ebenso kaltblütigen wie gewissenlosen Befehle der sich in ihren bequemen Unterständen am Rotwein labenden Generäle schließlich im Ersten Weltkrieg, als – beispielsweise – im Herbst 1914 Tausende von völlig unerfahrenen jungen deutschen Studenten beim flandrischen Langemarck offenen Auges in das französische Trommelfeuer geschickt wurden. Das war freilich nur ein harmloser Vorgeschmack auf den späteren sogenannten »Stellungskrieg« mit seinen festgefrorenen Fronten, der die Kommandierenden auf beiden Seiten zu der wahnwitzigen Annahme verführte, sie könnten den Krieg gewinnen, indem sie das auf der Gegenseite vorhandene »Menschenmaterial« durch das stete Feuer ihrer Kanonen und durch den Beschuss mit Giftgas »ausbluten«.
Zugleich waren es nicht nur Kriege, nicht nur das blinde Machtstreben von Herrscherhäusern und ihrer Militärs, unter denen die Menschen hilflos zu leiden hatten. Überall war die europäische Entwicklung geprägt von tiefgreifenden politischen Umwälzungen, vom Aufkommen gänzlich neuer staatlicher Strukturen. Zwar waren damit nicht selten auch militärische Auseinandersetzungen verbunden. Viel tiefer noch gingen jedoch die grundlegenden Eingriffe in die gewohnten Traditionen und das unmittelbare Umfeld der Bürger und ihrer Familien, indem landsmannschaftlich bedingte lokale und regionale Unterschiedlichkeiten zu einheitlichen Nationalstaaten zusammengeschmolzen wurden.
Joseph Roth, der ebenso großartige wie tragische österreichische Dichter, hat sie einmal in seiner unverwechselbar nostalgischen Tonart so beschrieben ( Die Büste des Kaisers ): »In jener Zeit begann nämlich … jene ›Nationalitätenfrage‹ heftig zu werden. Alle Leute bekannten sich – ob sie wollten oder so tun mussten, als wollten sie – zu irgendeiner der vielen Nationen, die es auf dem Gebiet der alten Monarchie gab. Man hatte (… ) bekanntlich entdeckt, dass jedes Individuum einer bestimmten Nation oder Rasse angehören müsse, wollte es wirklich als bürgerliches Individuum anerkannt werden. ›Von der Humanität durch Nationalität zur Bestialität‹ hatte der österreichische Dichter Grillparzer gesagt. Man begann just damals mit der ›Nationalität‹, der Vorstufe jener Bestialität, die wir heute erleben. (…) Und all die Menschen, die niemals etwas anderes gewesen waren als Österreicher, in Tarnopol, in Sarajewo, in Wien, in Brünn, in Prag, in Czernowitz, in Oderburg, in Troppau, niemals etwas anderes als Österreicher: sie begannen nun, der ›Forderung der Zeit‹ gehorchend, sich zur polnischen, tschechischen, ukrainischen, deutschen, rumänischen, slowenischen, kroatischen ›Nation‹ zu bekennen – und so weiter.«
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Bis heute ist dieser Prozess nicht abgeschlossen. Mitunter kann er sich sogar sehr lange hinziehen. Vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens wird das am Beispiel Italiens besonders deutlich. Formal gelang es zwar, nach 20-jährigen Wirren und damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen, die nationale Vereinigung des Landes um 1860 herum Wirklichkeit werden zu lassen, also etwa um die gleiche Zeit wie die Gründung des Deutschen Reiches. Doch anders als in Deutschland sind die unterschiedlichen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Strukturen in den Regionen Italiens bis heute noch nicht tragfähig
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