Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
durch Auslandspraktika und allgemeine Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, eine internationale Popkultur und einen internationalen Kunst- und Klassikbetrieb. Freunde und Verwandte in anderen Ländern zu haben ist anregende Normalität. Gehören die Akropolis, der Prado, der Louvre und die Rialto-Brücke nicht irgendwie uns allen? Norbert Lammert, der Präsident des Bundestags, hat im Oktober 2011 gesagt, die »Europäisierung (werde) ohne Regionalisierung weder Chance noch Zukunft« haben, »genauso wenig wie der umgekehrte Weg«. Man könnte das auch einfach in der uralten Erfahrung zusammenfassen, dass das Ganze mehr sein kann als die Summe seiner Teile – unter der Voraussetzung, dass die einzelnen Teile ihre jeweiligen Vor- und Nachteile fruchtbar zusammenwirken lassen, also regelmäßig dann Synergien entstehen können, wenn unterschiedliche Traditionen, Denkweisen und Verhaltensarten unter einer gemeinsamen Zielsetzung aufeinandertreffen.
Wir haben schon gelesen, was Joseph Roth über das Empfinden der Menschen berichtet, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in seiner österreichisch-ungarischen Heimat gelebt haben. Gewiss ist diese Welt längst vergessen. Es handelte sich um ein Reich, dessen Teile keineswegs immer aus freiem Willen zusammengefunden hatten und das – auf der Grundlage einer straffen Verwaltung – notfalls auch gewaltsam zusammengehalten wurde. Beides sind Ansätze, die für das Projekt einer Vereinigung Europas ganz und gar untauglich wären. Trotzdem könnte es sich lohnen, noch einen weiteren kurzen Blick darauf zu werfen. Denn tatsächlich war es bis zur Entdeckung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert vollkommen normal, dass man sich zwar von Geburt her durch alle möglichen Verschiedenheiten (zuvörderst die Sprache, mit der man aufwuchs) voneinander unterschied – dass aber kaum jemand nur deswegen auf die Idee verfiel, seine Zugehörigkeit zu einem übergeordneten Staatswesen infrage zu stellen. Das galt nicht nur für Frankreich oder England, es galt auch für das Habsburgische oder das Osmanische Reich, unter dessen riesigem Dach eine Unzahl von Völkern ebenso problemlos und tolerant zusammenlebten wie Muslime, Christen und Juden. Gewiss bleibt es wahr, dass beide Strukturen im Verlauf der Geschichte schließlich ermüdet und zum Schluss erschlafft in sich zusammengefallen sind. Doch dass sie über lange Wegstrecken hinweg gerade aus dieser Vielfalt heraus und mit deren Hilfe einzigartige Beispiele von kreativer Kraft hervorgebracht haben, ist gleichfalls unbestreitbar. Könnte es sich nicht lohnen, sich daran zu erinnern, wenn wir über die Chancen eines vereinten Europa nachdenken?
Die Europäer können nämlich wahrhaft (und mit Stolz!) auf etwas zurückblicken, was in keiner anderen Region dieser Erde – jedenfalls nicht mit vergleichbarem Erfolg – gelungen ist. Es ist die Erkenntnis und die daraus entwickelte grundlegende Überzeugung, dass es ein einziges Rezept gibt, das allein das friedliche und ungestörte Zusammenleben von Menschen und Völkern unterschiedlichen Herkommens und unterschiedlicher Natur auf die Dauer sichern kann. Dieses Bewusstsein ist eine Errungenschaft, die als solche nur vor dem Hintergrund der europäischen Geistesgeschichte erklärlich und verständlich ist. Sie drückt sich aus in der auf Immanuel Kant zurückgehenden Überzeugung, dass der Umgang der Menschen miteinander von aufgeklärter Vernunft geleitet sein muss, in dem Siegeszug der Ideale der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit seit der Französischen Revolution durch ganz Europa, in der unantastbaren Sicherung der allgemeinen Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit – und nicht zuletzt in der festen Überzeugung, dass das gemeine Wohl im Zweifel stets Vorrang vor den selbstsüchtigen Interessen der einzelnen haben muss.
Sofort steht mir allerdings der gleiche Einwand vor Augen, der uns schon mehrfach beschäftigt hat. Er lautet, dass es für die einfachen Wählerinnen und Wähler, die heute über die aktuell anstehenden Probleme durch ihre Stimmabgabe zu entscheiden haben, alles andere als ein Selbstläufer ist, sich dieser herausragenden Leistung der europäischen Geschichte bewusst zu sein. Ganz besonders gilt das dann, wenn sie ihre Stimme dafür hergeben sollen, dass ihre eigenen materiellen Vorteile im Interesse der europäischen Vereinigung hintangestellt werden. Rattenfänger aller Art haben da regelmäßig leichtes Spiel. Jeder Stammtisch der CSU ist sich –
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