Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
Abgesehen von der brutalen Unterdrückung und Beraubung der Indianer und dem schrecklichen Bürgerkrieg, der die Nord- und Südstaaten um die Mitte des 19. Jahrhunderts so bitter entzweite, waren die Volksgruppen der USA nie untereinander in kriegerische Auseinandersetzungen verstrickt. Vielmehr durften sie sich von Anbeginn an als Angehörige einer Nation fühlen, die alle Freiräume für eine grenzenlose geografische Ausdehnung, für die Mehrung ihres Wohlstandes und für ein freiheitlich gestaltetes Leben vorfanden. Die USA als »God’s Own Country«: Das war eine durchaus naheliegende Überzeugung, die sie miteinander einte.
Wie anders ist es den Europäern ergangen! Sie haben sich eben nicht vom ersten Tag ihrer Geschichte an als eine Gemeinschaft, geschweige denn als einheitliche Nation erlebt. Für ihre einzelnen Völkerschaften gab es keine gemeinsame Erfahrung, die ihnen das Gefühl vermittelte, zueinander zu gehören. Im Gegenteil: Kriege, Eroberungen, Völkerwanderungen, Raubzüge prägten über Jahrhunderte hinweg ihr Erleben.
Bevor das Christentum seinen Siegeszug antrat, gab es nur eine einzige Verbindung, die auf alle ausstrahlte. Zudem war selbst diese Gemeinsamkeit, im Unterschied zu den ganz und gar realen, weil auf Freiheit und materiellen Wohlstand ausgerichteten Beweggründen in den USA, vornehmlich geistiger, also abstrakter Natur: die griechische und die römische Kultur. Und auch diese – ja eher schwache – Klammer änderte nichts daran, dass die europäischen Völkerschaften auf ihre unterschiedlichen, ja gegenläufigen Interessen und Ziele ausgerichtet blieben. Bei nüchterner Betrachtung wäre es daher eine schiere Illusion, anzunehmen, die Europäer hätten sich irgendwann einmal ernstlich als durch gemeinsame Wurzeln miteinander verbunden gefühlt. Das gilt selbst für die Ära nach der Zeitenwende, als sich, begründet durch den Kaiser Augustus, das große Römische Reich herausbildete, das »Imperium Romanum«.
Nach dem damaligen Verständnis umfasste es zwar den »ganzen Erdkreis«, »orbis terrarum«, und gründete sich durchaus bewusst auf die Jahrhunderte zuvor in Athen geborene philosophische Idee eines allumfassenden Weltbürgertums. Doch selbst dieser kärgliche Nährboden für ein vereintes Europa ist über lange Wegstrecken hinweg nahe daran gewesen, hoffnungslos auszutrocknen. Inzwischen wissen wir, dass er dringend einer sorgfältigen Pflege bedarf, dass er gewässert, gedüngt, weiterentwickelt, womöglich sogar neu belebt werden muss. Einfache Rezepte dafür gibt es nicht. Schon gar nicht geht es um die Errichtung eines zentral regierten Imperiums. Unverzichtbar bleibt, dass es sich auf alle vorhersehbare Zukunft um eine Gemeinschaft gleichberechtigter Nationen handeln muss, die sich aus freiem Willen entschließen, Teile ihres Rechts auf Selbstbestimmung in ein gemeinschaftliches Staatswesen einzubringen. Das allerdings ist und bleibt in der Tat der gleiche, in griechischer und römischer Zeit angelegte Nährboden, auf dem – trotz aller teilweise abscheulichen Verirrungen – die unermesslich fruchtbaren Beiträge des Christentums zur menschlichen Zivilisation gediehen sind, auf dem die Weisheit und die Toleranz des Judentums ihre unverwechselbaren Wurzeln geschlagen haben, auf dem die Klugheit und die Gelehrsamkeit des Islam ihre Handschrift in die Entstehungsgeschichte der modernen Zeit einprägen konnten.
Entstanden ist daraus eine gemeinsame Identität Europas, die bis heute unverwechselbar geblieben ist. »Identität«: Der Begriff leitet sich von dem lateinischen »idem« her, zu Deutsch: »derselbe«. Gewiss wird – wie gesagt – selbst der süßeste Traum niemandem vorgaukeln können, dass die Bürgerinnen und Bürger der europäischen Völker, zumindest in einem oberflächlich verstandenen Sinne, einander gleich seien. Niemand wird auch leugnen können, dass die Geschichte ihrer gegenseitigen Beziehungen durch eine breite Spur von Konflikten und Blut gezeichnet ist. Trotz alledem gibt es aber eben eine Erfahrung und eine Tradition, die den Europäern als bleibende Lehre aus ihrer Geschichte zugewachsen ist: die Achtung vor dem menschlichen Individuum – verbunden mit der tiefen Überzeugung, dass jeder einzelne Mensch, ob er will oder nicht, in eine Gemeinschaft eingebunden ist, die auf grundlegenden ethischen Wertvorstellungen beruht.
Natürlich setzt der nüchterne Blick auf die Realitäten des täglichen Lebens auch hinter eine solche Feststellung
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