Egorepublik Deutschland: Wie uns die Totengräber Europas in den Abgrund reißen (German Edition)
lebendig werden zu lassen, muss es in der Tat erstaunen, wie es geschehen konnte, dass die anfänglich so breite politische Übereinstimmung zwischen dem Wahlvolk und den Regierenden inzwischen zu einer allgemeinen Skepsis, um nicht zu sagen: zu einem verbreiteten Widerwillen gegenüber allen Entwicklungen verkommen ist, die unter dem Stichwort »Europa« das Tagesgeschehen beherrschen. Erklärlich wird das erst, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich von Anfang an bei der europäischen Vereinigung um ein Projekt von wahrhaft geschichtlicher Dimension handelte – und das in einem durchaus doppelten Sinn: Einerseits ging und geht es darum, Interessengegensätze zwischen den Völkern, die sich im Verlauf einer langen Wegstrecke aufgebaut haben, Schritt um Schritt anzugleichen, und zum anderen um die Erfahrung, dass das Gelingen eines solchen Vorhabens unweigerlich von Geschehnissen abhängt, die außerhalb der eigenen Entscheidungsspielräume liegen.
Auf die Ära der großen Staatsmänner der ersten Nachkriegsperiode folgte eine Ära der europäischen Entwicklung, die vielleicht am ehesten mit dem Namen Willy Brandt zu umschreiben ist. Als große politische Vision, um die zwischen den Parteien gerungen wurde und für die sich große Teile der deutschen Wählerinnen und Wähler begeisterten, stand nicht mehr die Vereinigung Europas im Vordergrund, sondern die angestrebte Beendigung der als so gefährlich empfundenen Spannungen zwischen den freiheitlich-demokratischen Staaten und der Sowjetunion mit ihren Vasallen. Der Blick wendete sich damit von Westen nach Osten. Das weitere Fortschreiten der europäischen Einheit blieb von Tag zu Tag mehr den Vertretern spezifischer Eigeninteressen und den sich in Brüssel ausbreitenden Bürokraten überlassen. Zumindest musste das für den unkundigen Beobachter des Geschehens so scheinen, wenn sie oder er zum Zeugen des alljährlichen Feilschens in den Entscheidungsgremien der EWG um die Aufteilung der landwirtschaftlichen Subventionen wurde oder später miterleben musste, wie erfolgreich sich die Behörden um den Erlass von Richtlinien für den zulässigen Krümmungsgrad von Gurken bemühten. Europa, das war bald keine Idee und Vision mehr – es war herabgesunken zum Tummelplatz der Lobbyisten für kümmerliche nationale Wirtschaftsinteressen.
Hinzu kam das allgemeine Aufbegehren großer Teile der jungen Generation gegen die aus ihrer Sicht verknöcherten politischen und gesellschaftlichen Traditionen. Im Nachhinein wird dieser Aufruhr ebenso gern wie verallgemeinernd mit dem Etikett der »68er« belegt. Dabei schlug er sich in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen nieder, je nachdem, ob er sich an amerikanischen Universitäten, auf den Straßen von Paris oder in den massiven Protesten gegen die Notstandsgesetzgebung der kurzzeitigen deutschen Regierungskoalition von CDU und SPD unter der Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger abspielte. Gemeinsam waren freilich allen diesen Erscheinungsformen die Abkehr von vergangenen Idealen und die Hinwendung zu (vermeintlichen oder wirklichen) neuen Horizonten. Nicht zuletzt als Folge des als »Prager Frühling« in die Geschichtsschreibung eingegangenen Aufstands der tschechoslowakischen Bevölkerung gegen die kommunistische Diktatur und seine sowjetische Unterdrückung im Jahr 1968 zählte dazu die Hoffnung auf ein Ende des sogenannten »Kalten Kriegs«, symbolisiert durch den unvergesslichen Kniefall Willy Brandts vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos im Dezember 1970 in Warschau, der in Demut an die Verbrechen der Nazizeit erinnerte und genau damit zugleich eine gemeinsame Zukunft in Frieden und Freiheit anmahnte.
Die Vereinigung Europas hingegen: sie war längst kein Thema mehr, das Zukunftsträume auslösen oder Menschen begeistern konnte – sondern weitgehend nur noch ein Sinnbild für bürokratische Lethargie, das Kennzeichen für gescheiterte Ideale. Das hatte, wie gesagt, gute Gründe. Weit mehr noch als die reale Entwicklung beim Zusammenwirken der Länder in der EWG spielte entscheidend noch etwas anderes mit: der Mangel an Persönlichkeiten, die fähig gewesen wären, den Impetus der ersten Nachkriegszeit mit neuem Leben zu erfüllen. Deutschland erlebte mit Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger zwei blass gebliebene Kanzler, in Frankreich regierte mit Georges Pompidou ein Präsident, der große Gesten mit kleinkarierter Interessenwahrnehmung verband, Italien übte sich im bald zur täglichen Routine geratenen
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